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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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drängte die ganze Stadt sie zur Eile.
    Gleisgeister polterten an ihr vorüber, in ihrem Schlepptau Waggonladungen voller Pendler, die einen weiteren Arbeitstag vor sich hatten. Die Passagiere zeigten nicht die kleinste Regung von Neugier; falls sie Beth durch die dreckigen Zugfenster überhaupt sahen, ließen sie es sich nicht anmerken.
    In der Nähe von King’s Cross sprang sie von den Gleisen, und als sie wieder Asphalt unter ihren von Funkenschlägen verschmorten Füßen hatte, schlängelte sie sich an chinesischen Imbissbuden und Privattaxibüros vorbei durch die Pentonville Road, so schnell und so unbemerkt wie Wasser im Rinnstein. Auf den Gehsteigen wimmelte es von Fußgängern. Sie waren in dicke Mäntel gehüllt zum Schutz gegen eine Kälte, die sie selbst kaum spürte. Die meisten von ihnen hatten ihr Handy am Ohr, plauderten, lachten, klagten darüber, wie wenig sie geschlafen hatten: Sie waren das Blut der menschlichen Stadt, das nach einer kalten Nacht schwerfällig zu zirkulieren beginnt.
    Die Menschen hielten Beth auf.
    Sie bog ab in die Seitenstraßen, jagte an Müllcontainern voller Graffiti vorüber, an Obdachlosen, die sich in ihren Schlafsäcken vergruben, an Saufbrüdern, die in Pissepfützen neben den Hintertüren von Stripclubs ein Nickerchen machten. Drum ’n’ Bass pochte vier Stockwerke über ihr aus dem offenen Fenster eines Wohnhauses – vielleicht ein Student, ein reicher, bei den hohen Mieten in diesem Viertel. Sie hatte diese Straßen vor Jahren getaggt; jetzt hinterließ sie in ihnen erneut ihre Spur, wenn auch bloß den vergänglichen Duft nach Benzin und feuchtem Zement.
    Als die Gebäude älter und vornehmer und die Straßen schmaler zu werden begannen, verlangsamte sie auf Spaziergangstempo. Die Kräne ragten über ihr auf; von ihren Auslegern baumelten grausame Haken wie an kettengliedrigen Nabelschnüren. Auf dem Straßenschild an der Wand über ihr stand Dean’s Court , City of London EC2Y . Sie musste grinsen. Diese Pflastersteine, aus denen ihre Füße Nährkräfte zogen, gehörten Reach.
    Sie bog um eine Ecke und betrat einen verkehrsberuhigten Platz, an dessen Rändern gläserne Türme wie Nadeln die bröckelnde Pracht der Altstadt durchstießen. Jetzt sahen die Menschen sie; gleich mehrere der gut betuchten Männer und Frauen, die unterwegs in die Gebäude waren, blieben stehen, um auf diese Geistererscheinung aus Öl und Schmutz mit ihrer Eisenstange und ihrem irr funkelnden Blick zu starren. Auf den Titelseiten ihrer Zeitungen sah Beth verschiedene Versionen der gleichen Überschrift:
    Erdbeben in London: Chelsea Bridge schwer erschüttert.
    »Die Menschen glauben an Geschichten «, hatte Glas gesagt, »nicht an Fakten.«
    Beth lächelte oder verzog das Gesicht oder grinste hämisch – sie hatte keine Ahnung, wie diese elegant gekleideten Weltbeweger ihre Mimik deuteten. Sie fühlte sich den Gebäuden um sie herum näher als diesen Typen. Das Einzige, was die Menschen hier mit ihr verband, war, dass sie aus Fleisch und Blut waren.
    Zu ihrer Linken tauchte St Paul’s auf, die unter der klaren Wintersonne eigentlich ein herrlicher Anblick war. Beth steuerte darauf zu. Sie spürte, wie ein Schauer sie überlief, als sie in den Schatten der Kathedrale trat, und sie fluchte. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie sehr sie diesen Ort inzwischen fürchtete.
    Na schön, also wenn ich der König der Kräne wäre, wo würde ich mich verstecken?
    Sie hob den Blick. Die am nächsten stehenden Kräne ragten hinter der Häuserreihe direkt gegenüber auf. Misstrauisch musterte sie die Ausleger und duckte sich unwillkürlich, als einer von ihnen herumschwang, aus Angst, dass er sie entdecken würde. Sie sog die von trockenem Zement staubige Luft ein, lauschte auf das Krachen und Kreischen der Baumaschinen und marschierte los, doch ihre Gelenke beugten sich nur widerwillig. Die Muskeln in ihren Beinen zitterten.
    Okay, B, du hast Schiss – keine Überraschung. Mach bloß keine große Sache draus. Geh. ’nen Plan kannst du dir zurechtlegen, wenn du da bist.
    Sie straffte sich und stieg mit raschen Schritten die Stufen hinunter.

Kapitel 43
    Ich bin in eiskaltem Wasser gefangen. Die Drähte fesseln mich, beißen mich. Ich kämpfe dagegen an, aber sie halten mich fest, Zentimeter entfernt von der kostbaren Luft. Ich fühle mich leer werden, das Blut strömt aus meinen Wunden. Der heilige Fluss presst mich aus wie eine Faust.
    Und während ich dort liege, gefesselt und ausblutend,

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