Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
Vom Netzwerk:
zeichnete sie eine schartige Narbe an den Mundwinkel.
    Ein jäher Schmerz zuckte durch Parvas Gesicht. Sie tastete nach ihrer Wange und fühlte Blut. Dort, wo sich ihre Lippen trafen, wurde die Haut klaffend aufgerissen, als ob ein unsichtbarer Draht an ihr zerrte.
    Sobald Beth fertig war, sackte Parva zu Boden, Nase und Mund voller metallener Dornen.
    Beth legte den Stift auf das Papier. »Tut mir leid, Mr K«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass Sie ’nen Abnehmer finden. Für kein Geld der Welt.« Sie streckte Parva den Arm entgegen. »Na komm, Pen«, sagte sie.
    Mit dem Daumen und den drei verbliebenen Fingern ihrer Rechten griff Pen zu. Beths Handfläche färbte sich schmierig rot. Dann folgte Pen ihrer besten Freundin aus dem Zimmer.
    *
    Pen erwachte zögernd. Das Getöse der Abrissarbeiten erschien ihr wie ein Ruf zum Morgengebet von Moscheen im Dämmerlicht aus Kindertagen, an die sie sich kaum mehr erinnerte: Hochhäuser statt Minarette, Abrissbirnen statt Muezzins.
    Vorsichtig öffnete sie die Augen, doch es war nur das filzige Netz des Schlafs, das ihre Lider zusammenhielt. Ihr Mund war wie ausgedörrt; er schmeckte nach Bitterkeit und altem Blut. Sie seufzte, dehnte den Brustkorb unter dem Drahtkorsett, so weit sie konnte.
    Töte den Wirt … Das hatte der hagere Junge gesagt, als sie ihn in ihren Fängen hatte. Pen merkte plötzlich, wie wütend sie auf Beth war, dass sie ihm nicht gehorcht hatte. In den kurzen, fiebrigen Schlafphasen, in die sie nur selten fiel, träumte sie von Beth – die zugleich Retterin und Verstümmlerin war, Wunden ebenso riss wie heilte. Es war eine Sucht, zäher als Unkraut. Sie musste damit aufhören. Weder Beth zu beschuldigen noch alle Hoffnung auf sie zu setzen, würde ihr helfen.
    Eine lange Drahtranke löste sich von ihrem Arm, griff nach einer Gerüststange über ihr, wickelte sich darum und zog Pen auf die Füße.
    Sich auf etwas zu konzentrieren war inzwischen beinahe unmöglich. Die Dinge, auf die Pen ihren Willen zu richten versuchte, waren so glitschig wie ein nasses Stück Seife. Es vergingen jetzt ganze Stunden, in denen sie an Flucht nicht einmal dachte. Sie war entsetzt, wenn sie sich dabei ertappte, wie sie nach einer Hetzjagd lechzte, wie sie sich nichts sehnlicher wünschte, als sich an Drahtsträngen durch die Stadt zu schwingen, um den asphaltgrauen Jungen zu finden und ihn zu töten, damit der Krankönig stolz auf sie war.
    Sie wusste, dass diese Sehnsüchte nicht von ihr kamen, sondern von der Drahtmeisterin, aber sie spürte sie, und in ihrem Metallkäfig zitterten ihr vor Begierde die Hände. Das Verlangen steckte in ihrer Haut. Sie wollte nicht töten wollen, und doch sehnte sie sich danach. Ihre geborgte Mordlust machte ihr Angst.
    Trotzdem, anders als bei ihrem Verlangen, gerettet zu werden, fühlte sie sich dabei nicht wie ein Opfer.
    Die Morgensonne ging lodernd über ihr auf wie ein Feuerball, spiegelte sich im Kuppeldach von St Paul’s, während sie sich an den Himmel hob. Die Drahtmaske um Pens Gesicht strahlte blendend im grellen Schein. Unter ihr arbeiteten die Maschinen, gruben, um Reach ans Licht zu bringen.
    »Ich bin Reach. Ich bin Reach. Ich werde sein. Ich werde sein.«
    Das war sein Verlangen; es ließ sie erzittern, denn es war das ursprünglichste aller Verlangen. Sie verstand ihn jetzt besser. Er errichtete sich selbst, erschuf sich sein Dasein. Über Jahrhunderte hinweg war er wieder und wieder über die Stadt hereingebrochen, und dennoch hatte er es in gewisser Weise niemals ganz fertiggebracht, geboren zu werden.
    Der Stacheldrahtstrang rollte sich ab, und Pen glitt hinunter zwischen die Schuttberge. In dem Bretterzaun rings um die Baustelle gab es eine Lücke, einen Durchgang in das Labyrinth aus zusammengestürzten Ziegelmauern, das Reach vom übrigen London trennte. Dorthin ließ die Drahtmeisterin sie gehen.
    Kurz bevor sie in den Schatten trat, sah sie etwas im Augenwinkel: Zwei gewaltige Presslufthämmer meißelten den äußeren Rand eines Mundes aus der Erde. Sie konnte Lippen erkennen, mit Rissen darin und Kapillargefäßen. Ein Geschöpf mit einem so großen Mund würde die Kathedrale, die über ihnen aufragte, wie ein Spielzeug erscheinen lassen.
    Sie wollte sich vor ihm fürchten, doch sie tat es nicht. Ein Teil von ihr, ein großer Teil, jubilierte.
    Pen wollte es nicht wollen, und doch wollte sie Reach sich erheben sehen.

Kapitel 41
    »Aufwachen! Wach endlich auf! Herrgott, du schnarchst, als hätte dir jemand

Weitere Kostenlose Bücher