Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
noch einen anderen Weg , überlegte sie. Vielleicht ist nicht das ganze Gelände eingezäunt, vielleicht kann ich mich irgendwie reinschleichen …
Der Gedanke traf sie aus dem Nichts wie ein Vorschlaghammer. Ein Gedanke, der ihr so absurd vorkam, dass sie aufkeuchte. Sie könnte kehrtmachen, einfach davongehen.
Beth war entsetzt. Sie konnte nicht glauben, dass etwas Derartiges ihr überhaupt in den Sinn kam, nicht mal für eine Sekunde.
Doch die innere Stimme, die es ihr eingeflüstert hatte, verstummte nicht. Immerhin , raunte sie, niederträchtig und doch ganz und gar überzeugend, hatte sie schon so viel riskiert . Es war nicht fair. Sie hatte alles aufs Spiel gesetzt, war bis an den Rand des Abgrunds gegangen, und sie hatte tatsächlich das Zuhause gefunden, nach dem sie gesucht hatte. Sie sollte das alles jetzt nicht noch einmal riskieren müssen.
Sie erinnerte sich an Gossenglas’ Stimme: Reach wird dich in Stücke reißen.
Tod. Die Erkenntnis kam ihr mit kalter Klarheit. Das war die Angst, gegen die sie ankämpfte, seit sie die Deponie verlassen hatte: Sie hatte Angst zu sterben. Noch nie hatte sie sich davor gefürchtet, aber der Tod hatte sich auch noch nie so nah und vertraut angefühlt. Sie ließ ihren Blick über die Straßen schweifen, die ihr Zuhause geworden waren. Jetzt, da sie etwas zu verlieren hatte, jagte der Tod ihr panische Angst ein.
Sie kehrte Reachs Reich den Rücken zu und machte versuchsweise einen Schritt, dann einen zweiten. Während sie langsam aus der Gasse hinausschlenderte, stieg ein sonderbares Gefühl der Entspannung in ihr auf. Sich der Furcht zu ergeben war ungefähr so, wie sich in die Hose zu pissen: Es brachte Scham und ein leises Entsetzen über sich selbst mit sich, aber auch betäubende, warme Erleichterung.
Klirrend landete der eiserne Speer auf den Pflastersteinen zu ihren Füßen.
»Du musst mehr tun. Du musst mehr tun, als bloß wegzulaufen.« Heilige Scheiße, ich hab mich damals sicher angehört wie ’n aufgeblasener, großkotziger Arsch.
Als sie das Ende der Gasse erreichte, brachen der Lärm und die Buntheit der Hauptstraße über sie herein. Sie schaute nach links und rechts, spähte in den morgendlichen Strom von Fußgängern und machte sich bereit, sich aufs Neue hineinzustürzen. Bleischwer verklumpte sich ein Reuegefühl in ihrem Magen. Was immer ich in diesem Augenblick tue, ich werd’s für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen. Kein Zweifel, so würde es sein.
Sie hob ihren Fuß vom Asphalt und traf eine Entscheidung.
Andererseits, dieser Rest sind wahrscheinlich eh bloß noch zwanzig Minuten, und auf Regen folgt ja und so weiter –
Sie drehte sich auf dem Absatz um und hetzte zurück in die Gasse.
Du bist ’n Volltrottel, B, weißt du das? , sagte sie sich, während sie rannte. Du hattest schon immer was zu verlieren – jemanden – , und fast hättest du sie im Stich gelassen. Sie wartet auf dich hinter diesem verdammten Zaun.
Sie erhöhte das Tempo und klaubte in vollem Lauf den Speer vom Boden.
Und jetzt hast du auch noch jemand anderen zu verlieren. Das hier ist die einzige Möglichkeit, ihn zu beschützen.
Sie erinnerte sich, wie sie in den Tümpel der Chemischen Synode gesprungen war, erinnerte sich an die Angst, die sie gespürt hatte, und an den Funken Liebe zu diesem Jungen, der ihr gegenübergestanden war. Sie erinnerte sich, wie sie sich gestrafft, jede einzelne Muskelfaser angespannt hatte, bis ihr Körper fast bebte, und das alles nur, damit er –
Sie riss den Eisenspeer in die Höhe, reckte ihn über den Kopf. Vor ihr erhob sich die Rampe aus Bruchbeton. Die Gerüststangen schimmerten.
Beth , hatte er gesagt, ich bin sto–
Blitzartig schoss eine Hand aus einer Lücke im Ziegelschutt und schnappte sich ihren Knöchel.
Kapitel 45
Einen entsetzlichen Augenblick lang hing Beth in der Luft, spürte das Fehlen der Schwerkraft übelkeiterregend in ihrem Magen. Dann schlug sie hart auf den Beton, kaum einen Meter vom Fuß der Rampe.
»Argh!« Ihre Nase und Lippen fühlten sich geschwollen und aufgeplatzt an. Sie rollte sich ab und kam gehockt auf die Füße, den Speer erhoben, angriffsbereit.
»Mir tut so leid! So leid!«, rief eine vertraute Stimme. »Aber Zarin wollte Selbermord machen. War Einziges, was mir eingefallen.« Backsteine und Betonbrocken kollerten von einer staubigen Plane, und darunter kam eine Gestalt in einem abgewetzten Wintermantel zum Vorschein, die sich das graue Tarn-Make-up aus dem Gesicht
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