Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
verblüfft darüber, wie sehr ihr dieser Gedanke gefiel.
Graffiti verteilten sich wirr über die Mauer, doch es war nichts Interessantes dabei, bloß hingeschmierte, reizlose Tags. Für Signaturen wie diese hatte Beth keine Zeit. In ihren Augen waren Ziegelmauern eine Art Tagebuch, kein Megafon; sie sprühte und zeichnete nicht, um ihre eigene Wirkung auf die Stadt hinauszuschreien, sondern um die Wirkung der Stadt auf sie selbst zu zeigen.
Sie grub ein paar Stücke Kreide aus ihrem Rucksack.
Diffuse Gelbtöne ließen die Skizzen ihrer Laternenmädchen lebendig werden, imitierten die Strahlenkränze aus Licht. Beth grinste listig und verpasste der mit der großen Klappe ein etwas üppigeres Hinterteil.
Petris zeichnete sie auf die gegenüberliegende Wand, umgeben von einem nebelhaften Schattengarten aus Grabsteinen und wucherndem Unkraut. Plötzlich fiel ihr etwas auf: Ohne es zu wollen, hatte sie dem Steingesicht einen Ausdruck gegeben. Wut. Der Blick, mit dem er ihr von den Ziegeln entgegensah, war vorwurfsvoll.
»Weißt du«, sagte eine Stimme hinter ihr, »ich finde, er könnte bestimmt ’ne Nummer angepisster aussehen, wenn du noch ’n bisschen dran arbeitest. Ich meine, schon klar, er will sich umbringen, aber das gehört für ’nen Bordsteinpriester quasi zum Berufsrisiko. Im Grunde ist er ’n ganz munterer Bursche, wenn man ihn erst mal kennt.« Fil beugte sich über ihre Schulter und blickte forschend auf ihre Zeichnung. Er hatte sich ihr vollkommen lautlos genähert.
»Ansonsten ist es nicht schlecht. Irgendwann solltest du mich mal zeichnen.« Er grinste und warf sich mit seiner Eisenstange in Pose, die knochigen Arme von sich gestreckt.
»Hab ich schon«, antwortete Beth.
»Echt? Wo? Wie sah ich aus?«
»Als hätte dich wer aus runzliger Haut und Pfeifenreinigern zusammengeschustert. Ziemlich nah dran an der Realität.«
Er verzog das Gesicht. »So nah dran wie hier bei Elektra?« Er deutete auf die Zeichnung der Laternenmädchen. »Sie würd ’n Duell mit dir tanzen, wenn ihr das da unter die Augen käme.«
»Zumindest kann man sie erkennen. Das ist nicht so einfach, wie’s aussieht, weißt du. Außerdem«, Beth legte ein wenig Schärfe in ihre Stimme, »sind es die inneren Werte, auf die’s ankommt.«
Fils Grinsen erstarb, als er das Zitat erkannte. Er sackte gegen eine der Mauern. »Was, Beth?«, fragte er leidend. »Was willst du mir schon die ganze Zeit sagen?«
Beth setzte sich neben ihn, fühlte, wie die Backsteine ihr über die Wirbel schabten. Dreimal öffnete sie den Mund, bevor sie beschloss, dass die Sache sich einfach nicht taktvoll ausdrücken ließ. »Pass auf, es ist so … du bist echt in Ordnung – ich meine, ich mag dich. Ich schulde dir was.« Sie zögerte. »Und ich vertraue dir. Aber deine Mum – diese Göttin , die deine Mutter ist? Was die angeht, bin ich mir nicht so sicher.«
»Was redest du da?«, erwiderte er. »Mater Viae ist von meinem Blut; wir sind eins.«
»Ach ja?«, konterte Beth. »Hättest du Voltspinnen erschaffen, die Menschen erbeuten müssen? Hättest du das hier getan?« Sie zeigte auf ihre Zeichnung von Petris. »Wirklich? Du hättest diese Leute lebendig begraben?«
»Sie tragen die Schuld an den Verbrechen, für die sie bestraft werden«, setzte er an.
»Das hab ich nicht gefragt.«
Er schwieg.
»Da war ein Kind , Filius!«
»Und wenn schon, der Kleine hat andere Leben gelebt vor diesem – und Petris genauso. Keiner von denen ist rein wie regenumspülter Marmor, kapierst du das? Die wissen, was sie getan haben, auch wenn du’s nicht weißt. Hör zu. « Er wirbelte zu ihr herum, seine Augen funkelten. »Reach ist ein Monster. Vielleicht ist meine Mutter auch eins, aber immerhin hat sie ihn in Schach gehalten.«
Beth wollte protestieren, doch unter seinem starren Blick blieben ihr die Worte im Hals stecken.
»Was?«, fragte er barsch. »Was genau glaubst du, mir erzählen zu können? Du hast Mater Viaes Priesterschaft ein einziges Mal getroffen, und sofort bist du so ’ne Art Expertin ? Willst du die Alternative hören? Reach hat nämlich auch eine Priesterin: die Drahtmeisterin, so nennen wir sie, den Abrissklerus .« Er schnaubte verächtlich. »Sie ist ein Parasit: ein Egel aus Stacheldraht. Sie entführt der Einfachheit halber gleich ganze Familien, um sie als Wirte zu benutzen. Sie greift sie sich hübsch nacheinander, die Ältesten zuerst, denn die mit den kürzesten Beinen hebt sie sich immer für später auf. Und so
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