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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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verschleimte, unverwechselbare Geschrei eines Babys. Es drang aus dem steinernen Bündel, das in den Armen der Jungfrau Maria lag.
    »Oh!«, sagte die Jungfrau, offenbar überrascht. »Oh, ist ja gut, schhhh, schhhhh.« Ein Hauch von Verzweiflung lag in ihrer Stimme, fast so, als hätte sie das Kind völlig vergessen, bis es angefangen hatte zu weinen. »Ist ja gut, schhhhh, schhhhhh.«
    »Ein Neugeborenes«, murmelte Petris traurig, und sein Hals knirschte, als er das Gesicht von Fil abwandte.
    In das Wimmern des Säuglings mischten sich Grabgesänge von Stein auf Stein. Risse entstanden und schlossen sich ebenso rasch wieder, während die anderen Statuen sich mit bedächtigen Schritten ihrer schweren Füße vorwärtsbewegten.
    Beth bemerkte, dass frischer Granit das Loch in Petris’ Handgelenk inzwischen wieder geschlossen hatte.
    »Ganz ruhig … «
    »Es ist alles in Ordnung, wir kümmern uns um dich.«
    »Hast du Durst?«
    Die Statuen umringten das Kind, gurrten in sanften granitenen Klangfarben. Einer der Engel krümmte seinen Flügel, nur ein winziges Stück, um das Regenwasser, das sich in den Rillen seiner Federn gesammelt hatte, in den Mund des Babys tropfen zu lassen.
    Beth blickte in die Runde. Obwohl die ausdruckslosen Steinfiguren sich ihnen nicht zugewandt hatten, konnte sie dennoch die Feindseligkeit spüren, die von ihnen ausging: die Feindseligkeit gegenüber Fil und ihr, gegenüber ihrem Angebot und der Göttin, in deren Namen sie hier waren.
    »Filius.« Petris verharrte weiterhin vor dem Kind. »Tut mir leid. Wir haben vielleicht nur ein paar Zentimeter Freiheit im Inneren dieser Steine, doch diese paar Zentimeter müssen wir schützen. Ich traue ihr nicht, und ich traue dir nicht zu, für sie zu sprechen. Die Antwort lautet Nein.«
    Fil wirkte mutlos. Er wandte sich zum Gehen, und als er an dem Baby vorbeikam, strich er mit seinen Fingerspitzen über dessen Kopf. Der Kalkstein zerfiel zu Staub, und Fil beugte sich hinunter und küsste die freigelegte Haut. Dann richtete er sich wieder auf, die Lippen verklebt von der Nachgeburt.
    Das Baby weinte noch immer, und während Beth hinter Fil durchs tropfnasse Farndickicht stapfte, hörte sie, wie das Loch im Stein über dem Kopf des Kindes sich wieder schloss.

Kapitel 15
    Beth folgte Fil um die bröckelnden Straßenecken East Londons, obwohl er wie betäubt wirkte und sie keinerlei Logik darin erkennen konnte, welche Wege sie einschlugen. Sie streiften durch enge Gassen, landeten in irgendwelchen Hinterhöfen und machten wieder kehrt. Mit jedem Schritt entfernte Beth sich weiter von der Stadt, die sie kannte.
    Die Gebäude wurden düsterer, fremder: ein graffitiübersätes uraltes Kino mit längst erloschenen Neonreklamen und verrammelten Türen; ein Transformatorhäuschen, halb verborgen hinter einem Gestrüpp aus Stacheldraht. Und überall Massen von Kränen, die über der Skyline aufragten wie grausame Wächter.
    Bei Sonnenuntergang erreichten sie Limehouse. Beth kauerte sich erschöpft in einen Bahnbogen, doch ihr Pfadfinder war noch immer nervös. Er hob den Kopf, als ob er auf etwas lauschte, dann fluchte er und sprang wieder auf die Füße. Er zerrte sie hinter sich her, weg von der Bahnstrecke, bis sie es sich schließlich in einem schmalen Durchgang hinter irgendwelchen Mülltonnen gemütlich machen durfte.
    Sie beobachtete ihn eine Weile, das Kinn auf die Unterarme gelegt. Sie folgte ihm blind, wurde ihr schlagartig klar – konnte sie ihm denn wirklich so sehr vertrauen? Dieser Junge, der sich mit Riesenspinnen verbündete und einer Göttin diente, die Menschen bei lebendigem Leib auf ewig begrub. Wie konnte das ihre Seite sein? Und doch stand sie ihm ebenso treu zur Seite, wie Pen ihr immer zur Seite gestanden hatte.
    Pen. Beth seufzte. Pen hätte ganz sicher gewusst, ob das hier die richtige Seite war; Pen war stets ihr Kompass gewesen.
    Sie rollte sich dicht an der Mauer zusammen, merkte plötzlich, wie sehr sie sich wünschte, ihre Freundin wiederzusehen, sich zu entschuldigen für was auch immer es war, das sie getan hatte, es wiedergutzumachen.
    Sie schlief, und in ihren Träumen wimmelte es von winzigen Steingräbern.
    Als Beth erwachte, war Fil verschwunden. Angst wallte jäh in ihr auf, doch sie schluckte das Gefühl hinunter; sie glaubte nicht, dass er sie einfach zurücklassen würde. Trotz all seiner Zurechtweisungen, seiner Kraft und Fremdheit wollte er sie bei sich haben, da war sie sich sicher. Sie lächelte kurz,

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