Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
du? Zwanzig? Dreißig?«
»Sechzehn.«
»Sechzehn?« Er klang überrascht. »Großer Thems, jetzt fühl ich mich wirklich alt. Nun, glaub mir, wenn ich sage, dass du dir mit deinen sechzehn Lenzen gar nicht vorstellen kannst, was es bedeutet, ich zu sein, wieder und wieder aufzuwachen, Morgen für Morgen, wenn du schon alles getan hast, was du jemals tun wolltest, und schon alles gesehen hast, was du je sehen wolltest.
Mein Leben hatte einen Anfang, aber es hat kein Ende, das ihm eine Form gäbe. Genau das ist es, was uns unsre Göttin genommen hat als Vergeltung für unsere Sünden: die Konturen, die Grenzen, die Definition des Lebens.«
Er holte tief Luft, dann brach er in einen weiteren Hustenanfall aus. »Also«, sagte er, als er sich einigermaßen erholt hatte, »wenn Filius hier uns bittet, mit ihm zu kommen und für sie zu kämpfen – und glaub mir, wenn’s eins gibt, das dieser uralte Priester noch besser kann als saufen und Unzucht treiben, dann ist das kämpfen – , tja, dann haben wir damit ein klitzekleines Problem: Denn das Unendliche, zu dem sie uns verdammt hat, lässt sich um einiges leichter ertragen, wenn sie möglichst weit weg ist.«
Die anderen Statuen – nein, nicht Statuen, Bordsteinpriester – regten sich jetzt. Stein rieb gegen Stein, während quälend, fast unsichtbar langsam der Kreis um Beth enger wurde. Sie fühlte ihre Knochen erzittern, spürte den Drang ihrer Muskeln davonzulaufen, doch sie beherrschte sich, selbst als die Schatten der Priester über das sonnenbeschienene Gras auf sie zukrochen. Keuchendes Atmen drang an ihr Ohr, über das Knirschen des Gesteins hinweg. Sie staunte über die Anstrengung, die es bedeuten musste, ein solches Gewicht zu bewegen.
»Dein knochiger Freund hier bittet uns, wieder Sklaven zu sein«, flüsterte Petris ihr düster ins Ohr. »Und obwohl ich ihn liebe, und ich liebe ihn aufrichtig, liebe ich ihn doch nicht so sehr.«
Sie wusste nicht, wie er ihr so nahe gekommen war. Sie schauderte, als sein modriger Atem ihre Wange streifte.
»Ihr seid bereits Sklaven«, rief Fil.
Beth wirbelte herum.
»Du hast scharfe Ohren, Junge«, grunzte Petris.
»Na ja, ich bin nicht mal ansatzweise so betrunken wie das letzte Mal, als du mich gesehen hast.«
»Geht mir genauso. Wenn du mich wenigstens ein bisschen besoffen gemacht hättest, wär ich womöglich eher geneigt, deinem Gefasel zu lauschen. Was hast du gerade gesagt?«
»Ich sagte, ihr seid bereits Sklaven.« Er setzte das untere Ende seines Speers auf Petris’ Brust. »Denn solang sie nicht hier ist, könnt ihr’s ihr nicht vergelten – der einzige Weg zu eurer Freiheit liegt darin, ihr zu Diensten zu sein, und das weißt du. Also, hier ist der Deal. Kämpft für mich, und sie schenkt euch die Freiheit, sobald sie zurückkehrt.«
Die Statuen erstarrten abrupt.
Petris lachte. »Nur so aus Interesse«, sagte er, »es spielt kaum eine Rolle, ich weiß, aber gönn einem alten Mann doch die Neugier. Hast du je eine Armee kommandiert, Filius?«
»Nö«, gestand er munter.
»Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung von Strategie, Taktik, Versorgungswegen, Logistik?«
»Nö.«
»Und bist du je deiner Mutter begegnet, dieser rachgierigen und – nicht zu vergessen – eifersüchtigen Göttin, in deren Namen du dich dazu entschlossen hast, extravagante Versprechen in die Welt zu posaunen?«
»Nein.«
»Nun denn, ich kann in deiner Strategie keinen Fehler entdecken.« Petris’ Stimme war grau wie Schiefer. »Das alles klingt doch ganz wunderbar.«
Fil zischte ungeduldig und klopfte mit den Knöcheln auf Petris’ Kapuze. »Na schön, und wie läuft dein aktueller Plan so? Im Steinpyjama über deinen alten Lieblingsplatz schlurfen und darauf hoffen, dass sie nicht kommt und an deine Mausoleumstür hämmert? Du hängst in der Luft, Petris. Ich biete dir einen Ausweg.«
Er zeigte der Statue die Innenseite seines Handgelenks: die Krone aus Hochhäusern. Er schlug seine Speerspitze leicht gegen den Ärmel von Petris’ Kutte, und ein hauchfeines Netz aus Rissen erschien. Das Gestein bröckelte, es roch plötzlich nach feuchter Höhle. Ein paar Zentimeter Fleisch wurden sichtbar, weiß wie Papier. Auf der Haut prangte ein Hochhaus-Tattoo.
»Bitte, alter Mann«, sagte Fil leise. »Ich brauch deine Hilfe.«
Ein Laut unterbrach sie, ein durchdringendes gequältes Heulen. Mühsam löste Beth ihren Blick von den beiden und sah sich nach der Stelle um, von der das Geräusch kam. Es war das erstickte,
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