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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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sehen«, versicherte er ihr. Sein Ton war sonderbar feierlich. »Schau dich um, Beth: Schau dich gut um, dann wirst du’s sehen.«
    Gehorsam schaute Beth sich um, doch in der Dunkelheit wirkte die Hügellandschaft aus Schutt bloß wie ein zinnenartiger Schattenriss. Sie runzelte die Stirn und wühlte in ihrem Rucksack nach ihrer Taschenlampe.
    »Nein!« Sein Schrei ließ sie erstarren. Seine Augen schimmerten blass durch die Nacht. »Wir bringen kein Licht hierher, Beth. Niemals. Aus Respekt.«
    Beth fluchte leise vor sich hin, warf die Lampe aber zurück in die Tasche. Sie ging in die Hocke und wischte den Dreck von einem herausgebrochenen Stück Mauerwerk. Es kam ihr vor, als könnte sie darauf so etwas wie eine Gestalt ausmachen, doch sie war in der Dunkelheit kaum zu erkennen, nur der Schatten eines Schattens. Sie kniff die Augen zusammen in dem Versuch, es besser zu sehen, bis schließlich, Stück für Stück, die Konturen deutlicher wurden.
    Was sind … ? , fragte sie sich. Und dann begriff sie, was sie da vor sich sah. Und ihr entsetzter Schrei gellte durch die Nacht.
    Der leere Blick, der ihr entgegenstarrte, gehörte zu einem Gesicht, das auf der Oberfläche der Steine wirkte wie ein Fossil im Mauerwerk. Sein lautloser Schrei drang durch brüchige Mörtelzähne.
    Beth schreckte zurück und wandte sich ab, doch es war zu spät: Ihre Augen hatten sich angepasst, und die Leichen …
    Die Leichen waren überall.
    Sie waren vertrocknet wie Mumien, ihre knochigen Brustkörbe ragten aus den Oberflächen der Mauerbruchstücke hervor. Sie konnte sogar die Umrisse von Blutgefäßen erkennen, dort, wo Gliedmaßen abgetrennt worden waren.
    Sie schlug sich die Hände vor den Mund, so als versuchte sie, die gepressten Klagelaute einzufangen, die herauskamen. Ihr Blick fiel auf eine kauernde Gestalt, die Knie umklammert. Augen und Mund klafften zwischen den Schienbeinen. Ihr Genick war völlig zerschmettert.
    Beth taumelte zurück. Sie strauchelte, kroch weiter, ihre Hände griffen nach toten Dingen, und sie riss sie heraus und umschloss sie mit geballten Fäusten. Zusammengerollt wie ein Fötus lag sie inmitten der Backsteinleichen, rang nach Atem.
    Und dann war er da, umarmte sie, als sie flüsterte: »Wer … ?« Sie konnte kaum sprechen. Der Staub von den Trümmern saß ihr in der Lunge wie Blut. »Wer sind die?«
    »Frauen der Wände und Gemäuermänner«, sagte er traurig. »Es sind Menschen, Beth. Menschen, die sich hier ihr Zuhause geschaffen hatten.«
    Frauen der Wände . Beth konnte nicht anders, sie stellte sich vor, wie die zusammengekauerte Gestalt zu fliehen versuchte, sich voller Panik immer wieder und wieder und wieder umblickte, während die Abrissbirnen auf sie einschlugen, sie zer schlugen zu immer kleineren Bruchstücken aus Backstein.
    Langsam löste sich die Verkrampfung ihres Körpers, und sie zwang sich hinzusehen. Ein dickes Bohrloch spross aus der Brust eines Jungen, die Ränder der Rippen waren zersplittert. Beth blickte auf den Bohrer und wusste, dass er die Mordwaffe war.
    »Was ist das hier für ein Ort?«
    Als Fil antwortete, verriet ihr das Zittern in seiner Stimme, dass er bereits viele Male hier gewesen sein musste und dass es ihm mit keinem Mal leichter gefallen war. »Wir nennen sie Abrissfelder. Im letzten Krieg war das hier das äußerste Feld, zu dem Reach von St Paul’s aus vorgedrungen ist. Es … « Er zögerte. »Es ist auch das kleinste. Es gibt andere, die näher an dem Ort liegen, von dem aus wir vorhin losgegangen sind, aber … ich hab dich hierher gebracht, weil es hier am leichtesten zu ertragen ist.«
    Beth sah ihn an, mit Augen, die düster in ihren Höhlen lagen. »Warum?«
    »Es war nötig, dass du verstehst«, sagte er traurig. »Es war nötig, dass du begreifst . Er ist mordgierig, Beth: Er ist die ureigene Gier der Stadt, die sich selbst verschlingt in ihrem Hunger nach Wachstum. Er wird wiedergeboren, Generation um Generation, und jedes Mal kehrt er stärker zurück, und wir werden schwächer, wie ein Krebsgeschwür. Ich musste dir klarmachen, dass all die hübschen kleinen Türme, die er aus Glas und Stahl errichtet« – er breitete seine Arme über dem Massengrab aus – »dass sie alle auf dem hier errichtet werden.« Sein Blick ging ins Leere, seine Stimme klang flehend.
    Und plötzlich verstand Beth, weshalb er immer wieder hierherkam: Es erinnerte ihn daran, wer er war. Trotz all der Verfolgungsjagden und der Laternentänze und der Klettertouren durch die

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