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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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»Komm her, Kind.«
    Fil protestierte. »Petris, nein – sie hat’s nicht – «
    »Halt die Füße still, Filius. Ich werd ihr nicht wehtun. Ich denke nur, dass sie’s verdient hat zu wissen, für welche Seite sie sich entschieden hat.«
    Fil starrte die Statue einen Moment lang grimmig an, dann senkte er den Kopf. »Also gut«, sagte er leise. Er sah Beth an. »Geh schon.«
    Beth ging zögernd auf Petris zu. Sie bekam eine Gänsehaut.
    Eine schuppige weiße Kalkschicht hatte Stirn und Kapuze des Bordsteinpriesters miteinander verbacken. Beth erkannte jetzt, was Fil mit Meißelarbeit gemeint hatte: Jemand hatte ein Stück aus Petris’ Nase und rechter Wange herausgehauen. Im Näherkommen entdeckte sie zwei winzige, stecknadelkopfgroße Löcher inmitten der glitzernden granitenen Augen.
    »Näher.« Beth starrte in diese Löcher; sie glaubte, ein Blinzeln zu sehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
    »Näher.« Sein Atem war Steinstaub.
    Zwei Zentimeter vor seinem Gesicht hielt sie inne. Der Mund der Statue war einen Zentimeter weit geöffnet, und darin …
    Darin sah sie Lippen aus Fleisch und Blut, rosa, trocken und rissig. Sie bewegten sich, formten die Worte, als Petris flüsterte: »Hat dir nie jemand beigebracht, dass es die inneren Werte sind, auf die es ankommt?«
    »Wie sind Sie da reingekommen?«, hauchte sie.
    »Ich bin hier drin geboren!«, verkündete Petris großspurig. »Alle Bordsteinpriester sind es, unsrer Sünden wegen: vom ersten Säuglingsschrei an gefangen in unsrer Haut der Strafe.«
    Hinter den Granitaugen zuckte eine kurze Bewegung in Richtung Fil. »Seine Mutter ist durchaus nicht so barmherzig, wie sie sein könnte.«
    Beths Stirn legte sich in Falten. Bei dem Wort Strafe hatten sich instinktiv ihre Nackenhaare aufgestellt. »Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Wie können Sie denn bestraft werden, wenn Sie noch gar nicht geboren sind? Was können Sie bis dahin denn schon angestellt haben?«
    »Kleine Vergehen, wage ich zu behaupten, doch auch furchtbare Verbrechen. Verbrechen, die kleinen Mädchen Albträume machen«, sagte Petris, ein glimmerartiges Funkeln im Blick. »Ich hab nicht gesagt, dies sei das erste Mal, dass wir geboren wurden, richtig? Unsre Sünden entstammen vergangenen Leben, doch Mater Viae war der Ansicht, dass es unsportlich wäre, uns den Löffel abgeben zu lassen, ehe wir ihr unsre Schuld vergolten hätten. Also hat sie kurzerhand unsre Tode verscherbelt, direkt aus unsren noch lauwarmen Leichen.«
    Ein zustimmendes Murren lief durch die Runde. Beth starrte auf die Statuen, stellte sich die blassen Leiber vor, auf die nie ein Sonnenstrahl gefallen war, hineingeboren ins Grab dieser Steinfiguren. Wie , wollte sie fragen, doch sie ahnte, dass sie es nicht verstehen würde. Und war das »Wie« denn am Ende überhaupt wichtig? Stattdessen fragte sie: »Wer zum Henker kauft einen Tod?«
    Neuerlich senkte sich Stille über die Lichtung, und Petris verzog den Mund. »In London? Ausschließlich Herrschaften mit höchst fragwürdigem Geschmack, glaub mir. Es gibt … Sammler .«
    »Schwarzmagier«, warf eine andere Stimme ein, die aus einem der Marmorgelehrten drang.
    »Scharlatane.«
    »Schei–«, begann Justitia, doch jemand fuhr ihr über den Mund.
    »Die Chemische Synode, so nennen sie sich. Unsre Tode sind jetzt Teil ihrer Vorratslager.« Petris’ Ton war bitter, voller Verachtung. »Sie sind Geschäftemacher, Feilscher, Händler.«
    »Hurensöhne«, fauchte Justitia, und diesmal unterbrach sie niemand. »Die reinsten, gemeinsten Hurensöhne .«
    »Aus allem machen sie eine Ware«, knurrte Petris, »aus Größe, aus Ernst, aus Leid – aber den Tod , oh, den Tod schätzen sie am höchsten, denn jetzt, da unsre Tode griffbereit auf ihren Regalen hocken, können sie jederzeit einen von ihnen für einen anderen eintauschen und damit jeden Feind töten , den sie sich aussuchen.«
    Er seufzte. »Natürlich gibt’s da noch eine Kleinigkeit, eine, wenn du so willst, nachträgliche Tragödie. Ohne unsre Tode vermögen wir nicht zu sterben. Also werden wir wiedergeboren, in den Stein, immer und immer wieder.« Petris sprach mit selbstironischer Trockenheit, doch Beth hörte deutlich den bitteren Unterton.
    »Sie wollen sterben?«, fragte sie.
    »Na klar. Du nicht?«
    »Mal abgesehen von der Tatsache, dass ich unserer knochigen Hoheit hier an den Hacken klebe, eigentlich nicht, nein.«
    »Ich meine irgendwann «, sagte Petris, als wäre das offensichtlich. »Wie alt bist

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