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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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Betonboden lagen die Fotos, die ihm aus der Tasche gerutscht waren. Pen zeigte geradewegs auf das Foto von der Skizze des dünnen Jungen mit nacktem Oberkörper, die Beth gezeichnet hatte.
    »Ich – ich hab keine Ahnung, wo er ist, Parva. Du weißt doch, dass ich’s nicht weiß. Wir wissen ja nicht mal, wer er ist. Wir wissen nicht, wo Beth – «
    Er hatte recht: Natürlich wusste sie das. Es war das Wesen, das sich um sie gewickelt hatte, das all das nicht wusste. Die Ranken zuckten blitzschnell aus ihrem Mund und schlossen ihn wieder, ließen ihre Zunge geschwollen zurück.
    Zu Pens blankem Entsetzen begannen ihre Füße sich zu bewegen. Die Drähte zogen, die Widerhaken knirschten, dann machte ihr rechter Fuß einen Schritt vorwärts, kurz darauf ihr linker. Nach ein paar Sekunden fingen auch ihre Arme an zu schwingen, so als hätte das Wesen, das sie gepackt hielt, ein paar Schritte gebraucht, bis es den Dreh raushatte. Das Letzte, was sie sah, bevor es sie herumdrehte, war Beths Vater, der die Hand nach ihr ausstreckte.
    Doch Pen war schon fort. Die Drähte bewegten ihre Beine viel schneller, als sie selbst es je gekonnt hätte. Als sie nach Luft zu schnappen begann, lockerte das Geschöpf den Griff um ihren Brustkorb, und während sie den Pfad entlang an den Hochhäusern vorbeilief, konnte sie endlich schreien.
    Paul Bradley lief ihr hinterher, so schnell er konnte, doch sein Bein blutete immer noch, und er fiel rasch zurück. Taumelnd blieb er stehen, die Hände auf den Knien, schnappte nach Luft. Zu fett und zu lahm, alter Mann , verfluchte er sich selbst.
    Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er etwas Warmes an seinem Rücken, dann stürmte die gläserne Frau an ihm vorbei. Ihre Füße klangen hell auf dem Asphalt, während sie Pen verfolgte. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht, ihre Züge waren vor Schmerz wild verzerrt. Sie hielt Scherben der zertrümmerten Leiber in ihren Händen.
    »Halt!«, keuchte er. »Nehmen Sie mich mit, helfen Sie mir – ich muss doch – «
    Aber sie schaute sich nicht einmal nach ihm um. Er sackte zu Boden, sah zu, wie sie, das einzige Licht, in der Ferne verschwand.
    Schon wieder. Der Gedanke war wie ein kalter, giftiger Nadelstich, doch es war die Wahrheit. Du hast schon wieder jemanden verloren.
    Auf allen vieren kroch er in der Dunkelheit umher, tastete nach den verstreuten Fotos. Er kniff die Augen zusammen, um die Gestalten auf den Bildern zu erkennen, und fuhr mit dem Finger über die Umrisse von Beths Zeichnung des Jungen mit dem Speer.
    Dann machte er sich schwankend auf den Weg zu den beleuchteten Wohnblocks, die in der Ferne lagen. Um ihn herum herrschte ein vollkommen wirres Durcheinander. Das alles folgte einer ihm fremden Logik. Er wusste nicht, was real, was lebendig war. Er kannte die Regeln nicht.
    Wo ist er? Die Reibeisenstimme, die das Metallgeschöpf aus Parvas Kehle gepresst hatte, schnarrte schmerzhaft durch seinen Kopf. Wo ist er?
    Eine Gewissheit nahm in ihm Form an. All die Leute da draußen, die Autos fuhren, Burger vertilgten, Sex hatten, im Fernsehen das Spätprogramm schauten: Sie alle verblassten, wurden bedeutungslos.
    Beth war nicht in dieser Stadt. Sie war in der Stadt dieses Jungen. Mit ihm.

Kapitel 18
    Stähle dich, Petris. Oder müsste es, angesichts der Umstände, eher ›steinige dich‹ heißen? Nein, stähle dich, definitiv. Steinigen wäre was völlig anderes. Und schmerzhaft. Und von eigener Hand nur äußerst schwer zu bewerkstelligen.
    Sollte allerdings, überlegte Petris, irgendwer aus seiner Gemeinde ihn bei dem erwischen, was er vorhatte, gäbe es gewiss keinen Mangel an Freiwilligen, die sich darum rissen, den ersten Stein zu werfen.
    Er stand auf einem Spielplatz mitten im Victoria Park: eine der typischen heruntergekommenen Stätten einer Londoner Kindheit, mit graffitiübersäten Rutschen, einem Klettergerüst und vier wackligen Holzpferdchen auf rostigen Federn, die vor sich hin grinsten, als hätten sie zu viel Ketamin geschluckt.
    Er fing an zu zittern, was, redete er sich ein, bloß daher kam, dass die Herbstkühle in seine Strafhaut gekrochen war, und ganz sicher nicht daher, dass er Angst hatte.
    Wovor hätte er sich denn auch fürchten sollen? Er steckte in einer Granitrüstung, die fünf Zentimeter dick war. Sein Griff spaltete Stahlplatten. Er hatte Kriegerpriester gegen Skelettmonster in die Schlacht geführt, hatte die Ungetüme mit bloßen Händen zerschmettert. Was hatte er schon zu

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