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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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waren sie pünktlich zur Mitte der Marktnacht aufgetaucht. Schatten waberten wie ein riesiger rastloser Tintenklecks über die Wände, während die Gestalten umherflanierten, untereinander Kabeladern und Batterien tauschten und sich die Handgelenke mit in Flakons gefüllten Farbschattierungen betupften, deren kaum sichtbare Wellenlängen so zart waren wie Düfte. Eines der Wesen lag rücklings auf einer Türstufe, ein zweites beugte sich darüber und bearbeitete dessen glasige Haut mit einer surrenden Tätowiermaschine, deren Kabel in seinem eigenen Herzen steckte. Feine Linien rötlichen Lichts folgten der Spitze der Nadel wie Blut. Die verätzten Stellen auf der Schulter des Glasmannes wurden matt, undurchsichtig, zeichneten die Konturen eines leuchtenden Drachen in die sonst glasklare Haut. Rund um die beiden wurde überall Klatsch ausgetauscht, in rasend schnellem Lichtmorsen.
    Nach den vergangenen Tagen war es für Beth eine Erleichterung gewesen, etwas zumindest halbwegs Vertrautes zu sehen.
    »Oh, klasse«, hatte sie gesagt, als sie um die Ecke gebogen waren, »noch mehr Verwandtschaft von deiner Freundin. Nur blasser.«
    Fil hatte beunruhigt den Kopf herumgeworfen und gemurmelt: »Sie ist nicht meine Freundin. Und kein Wort über Elektra.«
    »Muss allerdings sagen«, fuhr Beth mit skeptischem Blick auf die gläsernen Leiber fort, »die wirken ’ne Spur zu zerbrechlich, um sich ins Kampfgetümmel gegen ’nen Haufen Kräne zu stürzen, ganz zu schweigen von einem – wovon hast du noch mal erzählt? Einem Stacheldrahtmonster?«
    »Auch darüber kein Wort.«
    »Gibt’s irgendwas, worüber ich reden darf ?«, hatte sie gereizt erwidert.
    »Hast recht.« Er hatte ihr auf die Schulter geklopft. »Wahrscheinlich überlässt du das Reden am besten mir.«
    »Wieso?« Beth hatte einen Stich von verletztem Stolz gespürt. »Bei den Reflexoschnöseln waren wir doch ’n ganz gutes Team.«
    »Stimmt, waren wir«, gab er zu, »aber die Typen hier werden dir nicht zuhören.«
    »Warum nicht?«
    »Weil sie … ähm, nicht sonderlich viel von Mädchen halten.« Wenigstens war er so gnädig gewesen, bei diesem Satz leicht zusammenzuzucken.
    Beth hatte erneut einen Blick auf die Glasmenschen geworfen. Tatsächlich, hatte sie bemerkt: Sie waren allesamt Männer – dicke Männer, dünne Männer, muskelbepackte Männer: wuselnde nackte Glasstatuen mit weiß glühenden metallischen Venen.
    »Tja«, hatte sie ausdruckslos gesagt, »jetzt will ich sie bloß noch in den Arm nehmen.«
    Aller Tauschhandel wurde abrupt eingestellt, als sie auf den gepflasterten Platz traten. Die glühenden Männer beäugten sie misstrauisch, und Beth meinte zu sehen, dass einer von ihnen, ein stämmiger Bursche, geradezu Angst vor ihr hatte.
    Ein großer, schlaksiger Kerl mit dichtem, gelocktem Glasfaserbrusthaar erhob sich.
    »Mist« , zischte Fil.
    »Was?«
    »Das ist Lucien, einer der Weißhell-Ältesten. Er kann mich nicht leiden.«
    »Wieso nicht?«
    »Hab ihn mal in ’ner Glühbirne eingesperrt.« Er bemerkte Beths entgeisterten Blick. » Was denn? Hab dem Knaben kein Haar gekrümmt. Er war vor ein paar Jahren bei den Vertragsgesprächen mit Glas dabei – wir kamen einfach keinen Schritt weiter, und der Kerl wollte partout seine Klappe nicht halten.«
    Beth schnaubte verächtlich, als Fil großspurig mit den Knöcheln knackte und verkündete: »Überlass die Verhandlungen mir.«
    Sie brauchte die Sprache aus flackerndem Licht nicht zu verstehen, um zu begreifen, dass sich die »Verhandlungen« auf der Stelle in einen Streit verwandelten, der allmählich in einen Schlagabtausch ausartete und kurz darauf zu einem deftigen Eintopf aus persönlichen Beleidigungen und Sarkasmus einkochte, gewürzt mit einer ehrgeizigen Prise Wortgefechtskunst.
    Beth vermochte dem diplomatischen Fiasko mithilfe eines bärtigen Obdachlosen zu folgen, der offenbar auf dem Platz sein Nachtlager aufgeschlagen hatte. Er war herübergekommen, hatte sich als Victor vorgestellt und sich ohne Umschweife zu ihrem Dolmetscher ernannt. Anschließend kauerte er sich neben sie an die Wand eines Ladens, dicht eingemummelt in einen uralten Schlafsack und mit einer ausgeblichenen Wollmütze mit Hammer-und-Sichel-Logo auf dem Kopf, die etwa ein Zehntel seiner üppigen Haarpracht bedeckte. Er beobachtete aufmerksam, was der Glasmann lichtmorste, und rief anschließend laut die englische Übersetzung, was sich als doppelt hilfreich erwies, denn es stellte sich heraus, dass auch der

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