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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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»Wettrennen.«
    Backsteinmauern wischten vorüber. Beths Blut, ihr neues Blut, rauschte durch ihre Adern. Ob es noch rot war, fragte sie sich, oder inzwischen teerschwarz? Die wenigen Menschen, die auf der künstlichen Eisfläche am Canada Square ihre Runden drehten, nahmen kaum wahr, wie das verschwommene grauschwarze Paar an ihnen vorbeijagte.
    Blitzschnell kletterte Fil an einer der Stahlsäulen vor den Drehtüren des Wolkenkratzers in die Höhe bis zum ersten Stock. Dann flitzte er wie ein Taschenkrebs seitwärts die Fassade hinauf, drückte sich flach in die dunklen Bereiche zwischen den hell erleuchteten Fenstern. Irgendwie fanden seine Finger und Zehen unsichtbare Spalten im glatten Metall an der Außenseite des Gebäudes.
    Beth kam schlitternd zum Stehen. Ihre Füße fühlten sich plötzlich schwer an, eher wie Blei statt wie Quecksilber. Sie ertappte sich dabei, wie sie den Kopf schüttelte. Der Typ klettert blanke Stahlflächen hoch.
    Sie konnte –
    Sie konnte das nicht.
    Nervös fing sie an, auf- und abzumarschieren, schielte immer wieder prüfend auf die glatte Steilwand aus Glas und Metall, beschämt, dass sie nicht mit ihm mithalten konnte.
    Dann fiel ihr Blick auf ein Stahlseil: ein dickes Kabel, das an der Seite des Turms bis ganz nach oben führte und zur Verankerung einer Fassadenreinigungsplattform diente. Als sie danach griff, stellte sie fest, dass es perfekt zu der neuen, rauen Struktur ihrer Handflächen passte. Sie hob die Füße vom Boden und zog sich ein Stück hinauf, begeistert von dem Gefühl, so mühelos ihr eigenes Gewicht tragen zu können.
    Mit einem breiten Grinsen lockerte sie ihre Schultern und begann, sich Armlänge um Armlänge hinaufzuhieven, indem sie das Stahlseil mit Fingern und Zehen umklammert hielt. Ihr Spiegelbild huschte über das blanke Metall, während der Wind ihr die Kapuze ins Gesicht peitschte und ihre Kleider aufblies wie Luftballons. Ein einziges Mal nur sah sie nach unten und lachte über die winzige Spielzeugstadt zu ihren Füßen.
    An der Spitze des Turms konnte sie jetzt die drahtige Gestalt von Fil ausmachen, der dort auf sie wartete.
    »Hast dir Zeit gelassen«, sagte er, als sie sich über die Kante zog.
    Beth ließ sich auf die Dachschräge plumpsen, ihre Lunge brannte. »Kann eben nicht jeder wie ’n verkacktes Eichhörnchen klettern, denk mal drüber nach.«
    »Echt? Du findest, ich klettere wie ’n Eichhörnchen?« Er klang stolz.
    »Freu dich bloß nicht zu früh. Eichhörnchen sind nichts andres als Ratten mit Föhnfrisur.«
    »Und was hast du gegen Ratten?«
    Beth verzichtete auf eine Antwort und rollte sich stattdessen etwas weiter dacheinwärts. Über ihnen ragte die silberne Pyramide steil in den Himmel. Ein Blinklicht blitzte auf und erlosch, ein Warnsignal an tieffliegende Flugzeuge. Dampf stieg aus den Lüftungsrohren der Klimaanlage und legte sich als dichter Nebel über das Leuchtfeuer, und direkt darunter –
    Sie merkte, wie ihr der Kiefer herunterklappte.
    »Äh, Fil?«, krächzte sie.
    »Was?«
    »Ist das da ein Thron ?«
    In eine Aussparung an der Westseite der Pyramide war ein Sitz mit hohen, geneigten Armlehnen eingelassen. Er war riesig – absolut nichts konnte groß genug sein, um ihn auszufüllen. Doch noch während sie die Frage stellte, wurde Beth klar, um wessen Thron es sich handeln musste, denn in die hohe Rückenlehne war die Turmkrone, der Ring aus Hochhäusern eingeschliffen.
    Fil hob den Blick und schnaubte belustigt. »Nö«, erwiderte er trocken, »die diamantförmige linke Arschbacke des Maharadscha von Madras.«
    Er schwieg kurz, dann sagte er: »Gut geraten, Beth: Das ist ein Thron, stimmt genau. Meinen Glückwunsch. Dein Talent, selbst das Scheißoffensichtliche noch zu bemerken, ist ein Ruhmesblatt für die Menschheit.« Er ließ den Blick über die Stadt schweifen und pfiff anerkennend.
    »Trotz allem, das hier hat schon was, findest du nicht? Ich kann das nie richtig fassen, wenn ich hier raufkomme. Das muss man der alten Trümmerfresse schon lassen, bauen kann er.«
    »Trümmerfresse?« Beth sah ihn verblüfft an. »Meinst du Reach?«
    Fil erwiderte ihren Blick. »Okay«, sagte er langsam, »vielleicht schnallst du das Offensichtliche doch nicht ganz so fix, wie ich dachte. Alle Wolkenkratzer sind Reachs Kinder, Beth. Glaubst du, man kann auch nur eins von den Dingern ohne Kräne bauen? Canary Wharf war seine größte, seine grausamste Errungenschaft. Ein Spiegel für sein zernarbtes Gesicht, den die ganze

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