Der Wüstendoktor
der arabischen Kleidung. Irgendwo, aus einer Ecke, tönte ein helles Stimmchen, auf englisch: »Mam', wird der Onkel jetzt schießen?«
»Ich schieße nicht!« rief Vandura laut. Seine Stimme dröhnte durch die Stille des Passagierraums. »Ich bin Arzt.«
»Gott sei Dank.« Ein großer Mann, nur mit einer schwarzen Hose bekleidet, kam zum Eingang. Er nahm die Goldbrille aus dem schweißtriefenden Gesicht und machte eine kleine Verbeugung. »Ich bin Herbert McClean, Pfarrer aus Illinois. Es ist mir gelungen, die erste Panik zu verhindern. Aber wenn das so weitergeht – diese mörderische Hitze, keine Luft, kaum Wasser zum Trinken, die Drohung, uns mitsamt dem Flugzeug in die Luft zu sprengen, falls die Forderungen der Entführer nicht erfüllt werden – es wäre kein Wunder, wenn einige von uns wahnsinnig würden.« Er sah Vandura scharf an, mit einem Blick, der einen unausgesprochenen Vorwurf enthielt. »Sie sind Europäer?«
»Ja, Deutscher.« Vandura wandte sich ab, ehe die nächste Frage kam. »Ladies and gentlemen«, sagte er auf englisch, »Ihre Lage ist nicht hoffnungslos, auch wenn es so aussieht. Ich bin Arzt, und ich verspreche Ihnen, alles zu tun, um Ihr Leben und Ihre Gesundheit zu retten. Das sind keine leeren Versprechungen, glauben Sie es mir. Sie werden in Kürze genug Wasser haben, und man wird Sie aus dem Flugzeug herauslassen in einige Zelte, wo man die Wüstenhitze besser ertragen kann. Und Sie werden auch alle zu Ihren Verwandten zurückkommen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte der Pfarrer hinter Vandura leise. »Wir haben einen schwer Herzkranken an Bord. Pierre Nolet, ein Franzose. Hinten, Sitz 112. Er liegt seit Stunden und bekommt kaum noch Luft. Er wird es nicht überleben.« Pfarrer McClean war resigniert.
»Können Sie keine Nachricht geben?« Eine Frau mit drei Kindern drängte nach vorn. »Mein Mann bringt sich um, wenn er nicht weiß, wo wir sind. Er wartet seit Stunden bestimmt auf dem Flugplatz. Mein Name ist …«
Auf einmal war die Hölle los. Von allen Seiten stürzten die Passagiere auf Vandura, brüllten durcheinander, stießen sich weg, schrien ihre Namen und Adressen, boxten sich einen Weg bis zu dem Arzt frei, fuchtelten mit den Armen, beschimpften die anderen, überrannten die Kinder – eine Masse Mensch mit aufgerissenen Mäulern und Augen, eine Welle nackter Überlebensangst, eine schreckliche Entblößung von aller Kultur, Erziehung und Menschlichkeit. Ein schreiendes Gemenge von Wesen, die nur noch den Körper von Menschen trugen.
Die beiden Rebellen am Eingang zum Cockpit reagierten vernünftig – sie schossen dreimal zur Warnung in die Luft, die Kugeln durchschlugen das Flugzeugdach, Holzverkleidung splitterte. In der Tür zum Cockpit tauchten zwei halbnackte Männer und eine zweite, fast entblößte Stewardeß auf. Sie wurden von dem anderen Rebellen zurückgedrängt und mit Kolbenstößen weggedrückt. Aber sofort war es still im Passagierraum. Die Männer und Frauen gingen zu ihren Sitzen zurück und verkrochen sich. Nur Pfarrer McClean blieb neben Vandura stehen.
»Wir sind eben alle nur Menschen«, sagte er entschuldigend.
»Das sollte traurig stimmen.« Vandura ging durch den Mittelgang zu dem hinten liegenden Sitz Nr. 112. Dort hatte man den Franzosen Pierre Nolet hingelegt. Er trug nur eine kurze Unterhose, sein Gesicht war bleich und eingefallen, er rang nach Luft. Vandura setzte sich neben ihn, öffnete seinen Arztkoffer und bereitete eine Kreislaufinjektion vor. Nolet starrte ihn an wie ein Wesen von einem anderen Stern.
»Monsieur –« sagte er mit heiserer, schleppender Stimme – »ich habe nur noch eine Tochter. Madeleine Ribault. In Lyon. Wenn Sie Madeleine benachrichtigen könnten – nur damit sie weiß, wo ich begraben liege.«
»Sie werden Lyon wiedersehen, Monsieur Nolet«, sagte Vandura und rieb die Einstichstelle mit einem Alkoholtupfer ab. Dann gab er die Injektion und nickte Nolet zu. »So schnell lasse ich keinen sterben, Monsieur. Ich bin bei Tod und Teufel gefürchtet. In zehn Minuten wird es Ihnen besser gehen.«
»Diese Luft«, sagte Nolet schwach. »Ich kann kaum atmen. Warum schlägt man nicht die Fenster ein?«
»Dann würde der Sand in die Maschine wehen, und das wäre noch schlimmer.«
»Dann soll man uns hier herausholen! Warum hält man uns wie gefangene Tiere? Fluchtgefahr? Zum Lachen! Wo sollen wir mitten in der Wüste hinfliehen? Das ist nur Schikane. Rache der Araber an den Weißen! Der Triumph, uns jetzt
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