Der Zauber deiner Lippen
gestorben. Nach einer sechsstündigen Operation.“ In diesen sechs Stunden hatte er alles versucht, das Leben des Mannes zu retten, aber vergebens. Dabei hatte er die ganze Zeit über an Cybele gedacht, die er anderen hatte überlassen müssen und um die er sich doch am liebsten selbst gekümmert hätte. Doch sie hatte größere Überlebenschancen, und so hatte er sich um Mel bemüht, obgleich er wusste, dass es ziemlich aussichtslos war. Doch die Vorstellung, dass währenddessen vielleicht nicht alles für Cybele getan wurde, hatte ihn fast verrückt gemacht.
Obwohl es, wie ihm alle Kollegen bestätigten, ein Wunder gewesen war, Mel überhaupt noch so lange am Leben zu erhalten, hatte er den Kampf um ihn verloren. Er war dann zu Cybele geeilt. Ihr Zustand hatte sich verschlechtert, so wie er befürchtet hatte. Die Möglichkeit, auch sie zu verlieren, war unerträglich gewesen, und er hatte alles getan, was in seiner Macht stand. Glücklicherweise mit Erfolg.
„Was war denn mit ihm?“, flüsterte sie ängstlich. „Bitte, sag es mir.“
Er hätte es ihr und sich gern erspart, aber er wusste, sie würde nicht lockerlassen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, als er geendet hatte. „Wie ist es denn passiert?“, stieß sie kaum hörbar hervor.
„Das kannst im Grunde nur du beantworten. Aber diese Erinnerung wird sicher als allerletzte auftauchen. Man hat das Flugzeug und die Absturzstelle genau untersucht, konnte aber nichts feststellen. Das Flugzeug schien bis zum Schluss voll funktionsfähig gewesen zu sein.“
„Dann hat der Pilot die Kontrolle über das Flugzeug verloren?“
„Sieht so aus.“
Ein paar Sekunden sah sie nachdenklich vor sich hin. Dann hob sie wieder den Blick. „Und wie schwer war ich verletzt?“
„Das ist doch ganz egal. Du solltest dich jetzt voll darauf konzentrieren, wieder auf die Beine zu kommen.“
„Aber dazu muss ich wissen, was mit mir geschehen ist, ob ich schon Fortschritte gemacht habe und so weiter.“
Rodrigo musste ihr recht geben. „Als man dich fand, warst du bewusstlos. Du hattest eine schwere Kopfwunde und blutetest an vielen Stellen des Körpers. Am schlimmsten aber waren die Trümmerbrüche von Elle und Speiche.“
„Deshalb.“ Sie blickte auf ihren geschienten linken Arm. „Hatte ich auch ein intrakranielles Hämatom? Also Hirnblutungen irgendeiner Art?“
Er nickte. „Ja, aber offenbar nicht so schlimm. Auf dem CT und dem MRT sah man nur ein kleines Ödem. Wahrscheinlich warst du deshalb bewusstlos. Aber nach der Operation sieht alles viel besser aus.“
„Du hast mich am Kopf operiert? Ohne die Haare abzurasieren?“
„Das war nicht nötig. Ich habe eine neue OP-Technik entwickelt, die nur einen minimalen Eingriff nötig macht.“
„Du hast eine neue Technik entwickelt?“ Mit unverhüllter Bewunderung sah sie ihn an. Dann grinste sie plötzlich. „Aber ich darf doch davon ausgehen, dass ich nicht dein Versuchskaninchen war?“
Rodrigo blieb ernst. „Wieso? Jetzt geht es dir doch gut, oder?“
Ihr Lächeln wurde zynisch. „Ja. Wenn du es gut findest, dass du mich in allen Einzelheiten über mein Leben aufklären musst, weil ich mich an nichts erinnern kann.“ Als sie sah, wie er zusammenzuckte, fügte sie schnell hinzu: „Entschuldige, das war nicht so gemeint. Ich weiß, du hast mir das Leben gerettet, und dafür bin ich dir sehr, sehr dankbar.“
„Du schuldest mir keinen Dank. Ich habe nur meine Pflicht getan, und das nicht einmal gut. Ich bin schuld an deinem jetzigen Zustand. Ich hätte dich gleich operieren müssen, dann hättest du das Gedächtnis wahrscheinlich nicht verloren.“
„Hör auf!“ Cybele konnte seine Selbstvorwürfe nicht ertragen. „Der Pilot war schlechter dran. Du musstest dich zuerst um ihn kümmern. Das war vollkommen richtig. Du hast erst um sein Leben gekämpft, und dann hast du mich gerettet. Außerdem ist mein Gedächtnisverlust sicher nur vorübergehend.“
„Das kann man nicht wissen. Dein Fall ist sehr ungewöhnlich. Denn du kannst denken und sprechen und neue Eindrücke speichern, dich aber nicht an das erinnern, was vor dem Absturz war.“
„Wäre das denn so schlimm? Wenn ich mich offenbar dagegen wehre, mich an früher zu erinnern, dann war mein Leben vielleicht so schrecklich, dass ich so besser dran bin. Was meinst du?“
Er schüttelte langsam den Kopf. „Dazu kann ich nichts sagen. Ich weiß nur, dass jeder Gedächtnisverlust neurologische Ursachen hat und dass es meine Aufgabe
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