Der Zauber deiner Lippen
Sie versuchte, sich aufzusetzen, und stöhnte laut auf.
Bei diesem Schmerzenslaut krampfte sich Rodrigos Herz zusammen, und er versuchte, die spontane Regung, ihr zu helfen, zu unterdrücken. Doch es gelang ihm nicht. Sofort war er an ihrer Seite und umfasste den weichen Körper, den er am liebsten in die Arme geschlossen hätte. Er zog sie hoch, verstellte die Rückenlehne des Bettes und ließ sie zögernd los. In ihren Augen standen Dankbarkeit und ein so grenzenloses Vertrauen, dass er sich schnell abwenden musste. Sein Gewissen peinigte ihn, und sein Körper war derartig in Aufruhr, dass ihm die Hände zitterten, als er die Schläuche und Leitungen zurechtrückte, die lebenswichtig für sie waren.
Automatisch hatte auch sie das Gleiche getan, als seien ihr diese Aufgaben vertraut. So berührten sich ihre Hände, und sofort richtete sich Rodrigo auf und trat ein paar Schritte zurück, so als habe er ins Feuer gefasst.
Verwirrt, ja verletzt sah sie ihn an. Dann senkte sie den Blick. „Du bist Arzt? Chirurg?“
„Ja. Neurochirurg.“
Jetzt richtete sie die klaren blauen Augen wieder auf ihn. „Es ist seltsam, ich habe den Eindruck, als hätte auch ich eine medizinische Ausbildung. Zumindest sind mir die Apparate hier vertraut. Und ich weiß, was die Fachbegriffe bedeuten.“
„Ja, du hast in einer Reha-Klinik gearbeitet. Mit Trauma-Patienten.“
„Hm … also hatte ich keine kriminelle Karriere und war auch keine Spionin. Aber vielleicht war ich in großen Schwierigkeiten, bevor ich hier gelandet bin. Hatte eine Klage wegen schweren Fehlverhaltens am Hals. Bin möglicherweise schuld am Tod eines Patienten. War kurz davor, meine Berufslizenz zu verlieren …“
Unwillkürlich musste Rodrigo lachen. „Vollkommen falsch! Ehrlich gesagt hätte ich dir nie eine so blühende Fantasie zugetraut.“
„Ich möchte doch nur herausfinden, warum ich beinahe erleichtert bin, dass ich nichts erinnern kann. Vielleicht bin ich abgehauen, um wieder neu anzufangen, wo mich niemand kennt. Und so bin ich hier gelandet … aber wo genau bin ich eigentlich?“
„In Barcelona. In meiner Privatklinik, die etwas außerhalb der Stadt liegt.“
Erstaunt riss Cybele die Augen auf. „Wir sind in … Spanien?“ Wie sie ihn so groß ansah, die Wangen leicht gerötet, war sie für ihn die schönste Frau der Welt, obgleich die Lider noch geschwollen waren und Stirn und Hals verschorfte Wunden aufwiesen. „Entschuldige die dumme Frage“, fuhr sie lächelnd fort, „natürlich weiß ich, dass es nirgendwo sonst ein Barcelona gibt.“
„Ich wüsste auch nicht, wo.“
„Und ich spreche amerikanisch.“
„Ja, du bist Amerikanerin.“
„Und du bist Spanier?“
„Ja. Genauer gesagt Katalane. Aber ich habe auch einen amerikanischen Pass.“
Nachdenklich biss sie sich auf die Unterlippe, und sofort erinnerte sich Rodrigo daran, wie es sich anfühlte, diese sinnlichen Lippen zu küssen. „So? Dann hast du auch die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben?“
„Nicht ganz. Ich bin in den USA geboren und habe nach meiner Ausbildung die spanische Staatsbürgerschaft angenommen. Aber das ist eine lange Geschichte.“
„Warum hast du denn dann so einen starken spanischen Akzent?“
„Hab ich?“ Überrascht sah er sie an. „Ich habe in meinen ersten acht Lebensjahren nur Spanisch gesprochen, weil wir zwar in den USA, aber in einer kleinen spanischen Gemeinde lebten. Erst danach habe ich Englisch gelernt. Komisch, ich war immer der Meinung, meinen spanischen Akzent ganz abgelegt zu haben.“
Sie lachte. „Oh, nein! Keineswegs. Und ich hoffe, das bleibt auch so. Es hört sich toll an.“
Ihm wurde ganz warm ums Herz. Noch nie hatte er darüber nachgedacht, wie er wohl reagieren würde, wenn Cybele ihm statt Feindseligkeit Bewunderung und Herzlichkeit entgegenbringen würde. Wenn sie ihn, statt abschätzig die Augenbrauen hochzuziehen, anstrahlen würde, als sehe sie niemanden lieber als ihn. So wie jetzt zum Beispiel.
Was war geschehen? Hatte der Gedächtnisverlust ihren Charakter und ihr Verhalten so vollkommen verändert? War das ein Zeichen für schwerwiegendere neurologische Probleme, die ihn beunruhigen mussten? Oder gab sie sich jetzt so, wie sie wirklich war, wie sie auf ihn reagiert hätte, wenn manche Ereignisse in der Vergangenheit nicht alles verdorben hätten?
Wieder sah sie ihn mit diesem unwiderstehlichen Lächeln an. „Wie heißt du eigentlich? Und ich? Ich meine … außer Cybele.“
„Du heißt
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