Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
entfernte, unterstützt, als ich …«
Nun hatte Francesca ihn unterbrochen. Van hatte noch den fast zerknirschten Ton im Ohr, in dem sie sagte: »Verzeihen Sie. Täuschen Sie sich nicht. Ich wollte Sie um nichts bitten. Und glauben Sie vor allem nicht, dass ich irgendetwas von Ihnen erwarte.«
»Verzeihen Sie«, hatte sie noch einmal gesagt.
»Aber was denn?«, hatte Van gefragt.
Francesca hatte sich schon wieder gefasst.
»Es ist wirklich Zeit, dass Sie mir etwas über sich erzählen«, hatte sie gesagt, ohne seine Frage zu beantworten. »Wie heißt die junge Frau?«
»Anis.«
»Kein gewöhnlicher Name.«
»Eigentlich heißt sie Anne-Isabelle. Sie findet doppelte Vornamen albern. Sie hat sich diesen verkürzten Namen selbst gegeben.«
»Geht sie einer Tätigkeit nach?«
»Mehreren. Sie schreibt eine Magisterarbeit in Soziologie und arbeitet nebenher. In Paris wohnen ist teuer. Ich habe den Eindruck, dass sie gleich mehrere Jobs hat.«
Van hatte kurz geschwiegen.
»Ich weiß fast nichts über ihren Tagesablauf.«
»Ivan«, hatte Francesca darauf gesagt, »zweierlei wäre mir lieb. Erstens: Die Buchhandlung nimmt Sie zehn Stunden am Tag in Anspruch, Sie haben nicht mehr genug Zeit zum Lesen. Wäre Anis bereit, in unserer Buchhandlung zu arbeiten? Zweitens: Geben Sie mich nicht der Lächerlichkeit preis, bitte. Sagen Sie niemandem etwas von meinem … Gefühlsausbruch.«
»Versprochen«, hatte Van gesagt.
Und Wort gehalten. Erst kürzlich habe ich erfahren, was an jenem Tag zwischen den beiden gesagt wurde, und nun habe ich noch eine Erklärung mehr für Francescas Melancholie.
11
E s klopfte. Francesca trat ein.
Sie trug fließende Kleidungsstücke an diesem Morgen, in Sand- und Grautönen, eine Art langer Strickjacke und eine weite Hose, doch was man vor allem sah, an diesem wie an allen anderen Tagen und ganz gleich, was sie trug, das waren ihre Größe, ihre schlanke Gestalt, ihr langer Hals und ihre königliche Haltung. Das Gesicht unter den dunklen, nach hinten gebürsteten Locken war ungeschminkt, sie trug keinen Schmuck außer dem schweren Ring an der linken Hand, den sie immer trug, und sie lächelte.
Sie lächelte das traurigste aller Lächeln. Van kannte sie schon seit Jahren, soweit man bei jemandem, der einem im Jahr fünf oder sechs Bücher abkauft, von Kennen sprechen darf, und immer hatte sie so auf ihn gewirkt, zugleich souverän und gebrochen. Man konnte nicht behaupten, dass sie seit ihrem Gespräch im April weniger traurig war, aber immerhin war sie seither in Vans Gegenwart von einer Natürlichkeit, die etwas von innerer Ruhe hatte.
Van war vom Fenster weggetreten und ihr entgegengegangen.
»Sagen Sie mir«, fragte sie ohne weitere Vorreden, »was ist nun schon wieder los?«
»Francesca«, sagte Van, der mitten in dem großen Raum vor ihr stand, »seit Anfang November, also innerhalb von nicht einmal vier Wochen, sind auf drei Mitglieder unseres Komitees Anschläge verübt worden. Genauer gesagt, am 7. und 15. November und letzte Woche, irgendwann zwischen dem 18. und dem 24. Ich habe nicht gleich davon erfahren. Aber jetzt ist die Sache klar, ich habe mit den dreien gesprochen, es kann kein zufälliges Zusammentreffen von Ereignissen sein.«
Er trug ihr einen detaillierten Bericht vor, den Francesca kein einziges Mal unterbrach. Beide waren nicht auf den Gedanken gekommen, sich zu setzen. Als Van verstummte, hatte Francesca bereits einen Beschluss gefasst.
»Das sind Warnschüsse, ich will keine echten Kugeln. Das wächst uns über den Kopf, Van. Wir müssen alles der Polizei sagen.«
Van musste sich zurückhalten, um nicht ihre Hände zu ergreifen.
»Genau das hatte ich vor, ich wollte nur erst Ihre Zustimmung haben.«
»Haben Sie mit Anis über diese Angriffe gesprochen?«
»Nein, ich wollte sie nicht beunruhigen.«
»Das haben Sie richtig gemacht. Je weniger von uns davon wissen, desto weniger Punkte können unsere Gegner für sich verbuchen und desto weniger von uns verbringen schlaflose Nächte.«
»Francesca!«
»Verstehen Sie mich nicht falsch, ich gebe keineswegs auf. Was Sie mir gerade erzählt haben, erschreckt mich, aber ich werde den Guten Roman nicht aufgeben. Doch wenn Sie sich zurückziehen wollen, hätte ich dafür absolutes Verständnis. Ich würde Sie sogar darin bestärken.«
»Auf den Gedanken bin ich gar nicht gekommen.«
»Dann denken Sie bitte jetzt darüber nach.«
»Aufgeben? Jetzt? Aber was würde dann aus mir?«
In manchen Augenblicken
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