Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
Gesprächspartner, ein einziger, der sich seine Geschichte, ohne mit der Wimper zu zucken oder zu grinsen, anhören würde und der dann nicht gleich eine polizeiliche Untersuchung einleiten, sondern eine dieser geheimen Voruntersuchungen vorschlagen und im gleichen Augenblick beschließen würde, dass sie »auf unbestimmte Zeit« genehmigt werden könne.
Er war inzwischen so weit zu glauben, dass der Kommissar der »Gruppe ›Allgemeine Angelegenheiten‹« dieser Gesprächspartner für ihn war. Doch schwante ihm schon, dass er, sollte er am Telefon diesen und nur diesen Herrn verlangen, wohl kaum direkt zu ihm durchgestellt würde. Zudem hegte er die Befürchtung, dass er zunächst den ganz normalen Polizisten würde aufsuchen müssen, der gerade in der Polizeiwache seines Viertels Dienst tat. Und das schmeckte Van überhaupt nicht. Ja, er hatte eine Art Vorgeschmack des wissenden Lächelns, der spöttisch hochgezogenen Braue und der organisierten Indiskretion – auch so etwas gibt es – in Richtung des lokalen Gossenjournalismus.
Es war acht Uhr fünfundzwanzig. Van wählte Francescas Nummer. Schon nach dem ersten Klingeln wurde abgehoben.
»Francesca?«
»Ja, Van.«
»Francesca, bitte entschuldigen Sie, dass ich so früh anrufe. Ich fürchtete, später wären Sie vielleicht nicht mehr da. Hätten Sie heute Vormittag einen Augenblick Zeit? Ich muss Sie sprechen.«
»Wieder … Schwierigkeiten?«
»Ja, wieder Ärger, und von ganz neuer Art. Aber keine Sorge. Wir werden damit fertig. Nur möchte ich Sie gern um Rat fragen.«
»Rufen Sie aus dem Büro an?«
»Ja.«
»Ich bin gleich da.«
»Ja, hier können wir am besten unbelauscht reden.«
Unbelauscht reden … Francesca würde von ihrer Wohnung in der Rue Condé einen Moment brauchen, Van trat an das seinem Schreibtisch nächstgelegene Fenster und ließ den Blick über den Hof wandern. Er dachte an das Gespräch zurück, das sie hier in diesem Büro geführt hatten, an einem Vormittag sechs Monate zuvor, als sie miteinander gesprochen hatten wie nie zuvor und nie danach.
Dieses kurze Gespräch, das dennoch den Verlauf ihrer Freundschaft verändert und eine Geheimtür in der scheinbar undurchdringlichen Wand zwischen ihren jeweiligen Leben hatte sichtbar werden lassen, hatten sie im April 2005 geführt. Die Buchhandlung stand in ihrem zweiten Geschäftshalbjahr, denn sie war in den letzten Augusttagen 2004 eröffnet worden. Sie hatten schon seit mehreren Monaten Angr iffe ertragen müssen. Es war wirklich schlimm geworden. Francesca hielt sich tapfer. Sie hatte Van nicht enttäuscht, im Gegenteil, und das galt wohl auch umgekehrt, denn als sie eines Morgens im April darüber diskutierten, wie sie mit den Anfragen aus dem Ausland umgehen sollten – Van konnte sich sehr genau erinnern, er sah Francesca noch vor sich, sie trug an jenem Tag ein schlichtes ecrufarbenes Kleid –, hatte sie gefragt: »Van, ist Ihnen klar, dass ich Sie nicht mehr als Kompagnon betrachte?«
Sie hatte leise aufgelacht.
»Oder vielmehr, dass ich Sie als Kompagnon im weitesten …« Sie hatte den Satz nicht zu Ende gesprochen. Van sah ihre schönen, ängstlich gespannten Augen noch vor sich, so hell in dem länglichen Gesicht.
»Francesca, Sie machen mir Angst«, hatte er gesagt, bevor sie weitersprechen konnte.
Nein, ihm war nichts klar geworden, und mit Grund. Denn in den mehr als anderthalb Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte Francesca nichts davon merken lassen, dass sie ihn mit neuen Augen betrachtete. Und angesichts ihrer Aufgewühltheit sagte Van sich, dass er zwar von den großen Brüchen in ihrem Leben wusste und dass sie einmal kurz mit ihm über ihre Tochter gesprochen hatte und zwei- oder dreimal auch über ihren Mann, dass sie jedoch absolut nichts über seine Herzensangelegenheiten wusste.
»Sie machen mir Angst«, wiederholte er, wieder, um sie am Weitersprechen zu hindern. »Ich bin so … erzgewöhnlich im Vergleich zu Ihnen. Ich habe Ihnen nichts über mich erzählt. Im Augenblick ist mein Kopf voll von einer jungen Frau, die mich … Wie soll ich es sagen? Die ich nicht ganz verstehe. Es ist keine einfache Geschichte. Und auch nicht gerade«, er zögerte, »eine richtige Beziehung. Ich weiß nicht, wie sie sich entwickeln wird. Diese Freundin ist übrigens auf ihre Weise mit am Abenteuer unserer Buchhandlung beteiligt. Sie hat immer daran geglaubt und es mir nicht nur nicht auszureden versucht, sondern, obwohl es uns sechshundert Kilometer voneinander
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