Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
Behindertenhilfsorganisation entledigte er sich seiner beträchtlichen Einkünfte, als wären sie irrtümlich zugeteilte Gewinne.
Dabei war sein Erfolg durchaus nicht erstaunlich. Armel war ein wunderbarer Erzähler. Aus genau diesem Grund hatte ihn sich Van als Komiteemitglied gewünscht. Es durften nicht nur Stilisten in diesem Gremium sein, auch wenn sie so grandios wie Paul oder so raffiniert wie Sarah Gesteslents waren. Zudem strahlten Armels Romane eine ansteckende Liebe zum Leben aus, und damit standen sie, wenn man von den etwas speziellen Werken Idas absah, ziemlich allein unter den Romanen der anderen Komiteemitglieder.
Schriftsteller sind ihren Büchern nicht unbedingt ähnlich. Le Gall, dessen Bücher so viel Freude ausstrahlten, war schüchtern, ungeschickt und so wortkarg, dass er fast mürrisch wirkte. Dieser Seebär hatte auf seine alten Tage noch eine Gefährtin gefunden. Vielleicht sollte man lieber sagen, eine Herzensfreundin, denn sie war eher selten an seiner Seite. Er war schon sehr bekannt, und Maïté schon seit Jahren Fotografin, als sie von einer Wochenzeitung nach Plouec’h geschickt wurde.
»Kommt nicht infrage, dass Sie mich fotografieren«, hatte Armel kategorisch erklärt, der erst, nachdem er die Tür geöffnet hatte, an ihrer Ausrüstung erkannte, was sie vorhatte.
»Sie lehnen doch schon alle Interviews ab«, protestierte Maïté vehement.
»Das ist alles eins«, erklärte Armel in seiner üblichen Gesprächigkeit. »Aber ich kann Ihnen einen Tee anbieten, wir können einen Spaziergang auf den Steilfelsen machen oder übers Fotografieren reden, wenn Sie mögen – denn ich interessiere mich durchaus für Fotografie, wenn nicht ich das Opfer sein soll.«
Maïté nahm alle drei Angebote an, den Tee, den Spaziergang und das Gespräch, und danach blieb sie, in der Bedeutung, die das Wort »bleiben« für sie hatte. Sie war etwa so alt wie Le Gall, damals Anfang fünfzig, und hatte, einmal abgesehen davon, dass sie es keine Woche am selben Ort aushielt, dieselben Vorlieben wie er, insbesondere für Autonomie, Stille, große Hunde, schwarze Felsen und das Schauspiel des Regens auf dem Meer.
Sie hatte nichts an der Ausübung ihres Berufs geändert. Sie fotografierte weiter, »freischwebend«, wie sie es nannte und wie sie es immer getan hatte, und meistens auf eigene Initiative.
Auch sie war wortkarg. Sie log nicht. Sie kannte Armel noch keine drei Monate, da hatte sie über seinem Arbeitstisch einen Zettel angepinnt, auf dem in ihrer großen, eckigen Schrift stand: »Armel Le Gall ist der Einzige, der nicht von seinem Talent überzeugt ist.« Armel hatte dazu nichts gesagt, aber siebzehn Jahre später stand der Satz immer noch da, verblichen und auf gewelltem Papier, aber gut lesbar.
Wenn man sie beide so sah, entdeckte man eine Art Ähnlichkeit, vielleicht, weil sie beide gleich braune und runzlige Gesichter hatten und sehr helle Augen unter einem wüsten grauen Haarschopf. Sie hatten ein wenig etwas von Bruder und Schwester. Ein wenig, mehr nicht, denn zwischen ihnen herrschte keineswegs die Interesselosigkeit, die zwischen engen Verwandten wegen der zu großen Übereinstimmung manchmal entsteht, sondern sie waren einer vom anderen fasziniert und genossen ihre Zweisamkeit so sehr, dass sie kaum noch jemand anders sahen.
ZWEITER TEIL
10
I van Georg hatte schon mit der Polizei Kontakt gehabt. Sogar recht engen. Aber noch nie auf eigene Initiative. Immer hatten die Polizisten den ersten Schritt gemacht.
Und an diesem Vormittag, an dem er zum ersten Mal in seinem Leben entschlossen war, mit einem Polizisten zu sprechen, wusste er nicht, wie. Er fragte sich, an welche Unterabteilung in welcher Brigade man sich wohl wenden musste, wenn man eine Geschichte erzählen wollte, wie er sie auf dem Herzen hatte.
Er war sehr früh morgens aufgewacht und hatte nicht wieder einschlafen können. Er war um sechs Uhr aufgestanden und zu Fuß durch die Dunkelheit und einen feinen, eiskalten Regen bis zum Odéon gelaufen.
Die Buchhandlung würde erst in einigen Stunden öffnen, und er war sofort ins Büro im oberen Stock gegangen. Die Behaglichkeit des großen Raums war ihm an diesem Morgen irreal erschienen, das sichtbare Holz in den Fachwerkmauern, der weiße Verputz und der Sisalteppich, der den ganzen Boden bedeckte. Francesca hatte den Raum nach ihren Vorstellungen gestaltet – nach ihrem Bilde, habe ich immer gedacht –, überaus geschmackvoll, mit klösterlicher Strenge und null
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