Der Zauber des Engels
auch er frei würde von Schuld und Erlösung fand. Und vielleicht sogar meine Mutter, so wie er sie anfangs gekannt und geliebt hatte. Ich erinnerte mich auch an meinen Traum in der Brandnacht. Ob es tatsächlich ihr Gesang gewesen war, den ich gehört hatte; ob sie der Engel gewesen war, der meinen Namen gerufen hatte?
In der Pause hielt ich Ausschau nach Zac. Aber er war in der Menge verschwunden, die in den Pfarrsaal drängte, wo kühle Getränke bereitstanden. Also nahm ich eine Flasche Wasser und ging zu unserem Engelfenster. Raphael war in der Dunkelheit ungewöhnlich leblos, ganz ohne Ausdruck. Aber ich wusste, dass er bei Sonnenaufgang erneut zum Leben erwachen würde.
Ich spürte, dass jemand hinter mir stand, und drehte mich um. Es war Michael, der mir mit einem Glas Rotwein in der Hand zusah.
»Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich finde, es läuft fantastisch«, sagte er, und seine Augen funkelten im Licht der Altarkerzen. »Dieser Wright ist einfach sensationell.«
»Das finde ich auch. Ben müsste glücklich sein. Hast du schon mit ihm gesprochen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ihr habt übrigens tolle Arbeit geleistet«, fügte er mit einem Blick auf den Engel hinzu. »Ich habe ihn mir heute Nachmittag vor der Generalprobe in Ruhe angeschaut. Gratulation!«
»Danke.« Ich lächelte. »Dieses Fenster ist für mich etwas ganz Besonderes.«
»Natürlich, dein Vater.« In seiner Stimme lag echtes Mitgefühl.
»Ja, mein Vater, aber noch vieles mehr, was in den letzten Monaten geschehen ist. Für mich war das in mehrfacher Hinsicht eine Art Wendepunkt.«
Er nickte nachdenklich. »Wie kommt ihr mit dem Laden voran?«
»Bestens, danke. Die Handwerker kommen gleich nach Weihnachten. Ich schätze, sie werden im Februar fertig sein, dann können wir Wiedereröffnung feiern.«
»Michael, da bist du ja! Es geht gleich weiter, wir sehen uns später, oder?« Nina berührte ihn kurz am Arm und küsste ihn auf die Wange. Er lehnte sich einen Moment an sie, seine Züge wurden ganz weich. Sie lächelte mir kurz zu, ehe sie ging; ich fand, dass sie traurig aussah.
»Wie du siehst, starten Nina und ich einen neuen Versuch«, meinte Michael. »Ben war sehr erschüttert, als du ihn verlassen hast. Ich habe ihm klargemacht, dass er Nina mit seinem Verhalten genauso wehgetan hat. Er war so anständig, sich bei ihr zu entschuldigen.«
»Machen die beiden noch zusammen Musik?«
»Nur noch bis zur nächsten Aufführung direkt nach Weihnachten. Es ist für uns alle nicht einfach.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Im Stillen dachte ich, dass es das Beste wäre, wenn sie Ben eine Zeit lang möglichst ganz aus dem Weg ginge. »Ich hoffe, es läuft alles so, wie du es dir wünschst, Michael.«
»Danke«, antwortete er, aber es klang unsicher. Dann nahmen wir wieder unsere Plätze ein.
In der zweiten Hälfte machte Ben einen wesentlich entspannteren Eindruck. Beim Ehre dem Heiligsten in der Höhe , das mit Orchesterbegleitung nahezu perfekt klang, lächelte er sogar. Als die fernen Stimmen auf der Erde flehten »Sei gnädig, sei großzügig, verschone ihn, o Gott«, dachte ich an den Engel, der meinen Vater in seinen »liebevollen Armen« hielt und auf seiner weiten Reise behutsam begleitete.
Als die letzten Töne des finalen Amens verklungen waren, stand Ben mit geneigtem Kopf da, ehe der Applaus einsetzte. Er steigerte sich zu einem Tosen. Die Leute standen auf, klatschten und riefen laut Bravo. Auch wir applaudierten Ben und den Solisten, bis unsere Hände ganz wund waren.
Als sich die Kirche schließlich langsam leerte, sah ich, wie Jeremy zu Ben ging und ihm die Hand schüttelte. »Gut gemacht«, hörte ich ihn sagen. »Das war das beste Konzert, das wir hier je hatten.«
Ich wandte mich an Jo. »Es war wunderbar, oder?«
Sie lächelte. »Es hat mir jedenfalls Riesenspaß gemacht. Komm, ich nehme deine Noten und gebe sie Dominic. Gina?«, sie drehte sich zu der Frau hinter sich um, »deine kann ich auch gern mitnehmen.« Und dann sammelte sie die Notenblätter ein, fröhlich und unbeschwert wie früher. Ich hoffte, dass alles gut würde. Jeremy hatte mir gestern Abend erzählt, dass die Anträge auf Bewilligung zusätzlicher finanzieller Mittel für das St.-Martin’s-Heim komplett neu gestellt werden mussten. Man hatte ihm zwar versichert, dass er gute Erfolgsaussichten hätte, doch es bedeutete trotzdem weitere Verzögerungen um mindestens ein Jahr. Vielleicht würden sie auch neue Planungen
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