Der Zauber des Engels
Blick auf die Party zu werfen.
41. KAPITEL
Ich sah Gabriel, wie eine Jungfrau oder wie der Mond über dem See. Sein Haar fiel lang herab, wie das einer Frau … Er ist der schönste der Engel … sein Gesicht ist wie eine rote Rose.
Ruzbehan Baqli
Auf der Straße war es ganz still. Arm in Arm liefen wir unter den Laternen entlang und schauten in die hell erleuchteten Wohnungen. Dort, wo die Bewohner vergessen hatten, die Vorhänge zuzuziehen, konnte man Bücherregale erkennen, geschmückte Weihnachtsbäume und flackernde Fernsehbildschirme. Andere Leben, andere Welten. Wir bogen in eine Straße, wo die alten Häuser im kalten Dunkel lagen, in ihre Geheimnisse versunken. Einen Moment lang schien der Nebel, der Vergangenheit und Gegenwart trennte, so dünn zu sein, dass es mich nicht überrascht hätte, wenn Laura vor uns die Straße überquert hätte.
Wir öffneten die Tür zur Tapas-Bar und tauchten in die Gegenwart ein: verrauchte Luft, laute Flamencomusik, schrille Stimmen. Ein Paar machte gerade einen Ecktisch frei. Wir setzten uns, bestellten Speisen und Getränke, ehe der Kellner, der gekommen war, um den Tisch abzuräumen, wieder entwischen konnte. Er brachte uns sofort eine Flasche Wein.
Wir sprachen über das Konzert, scherzten über das Leben im Pfarrhaus. Heute Morgen hatte Jeremy seine Brille verlegt und wie verzweifelt danach gesucht, bis seine Frau sie an der Stelle gefunden hatte, wo sie hingehörte.
»Hast du nicht das Gefühl, dass du dich besonders gut benehmen musst, solange du dort bist?«, fragte Zac und goss uns noch etwas Wein ein. Im Kerzenlicht sah er mit seinen schwarzen Haaren, den funkelnden Augen und dem Dreitagebart beinahe selbst wie ein Spanier aus.
Ich nickte. »Am Anfang schon, aber nun nicht mehr. Die Quentins sind wirklich sehr nett, und wir kennen uns nun schon so gut, dass inzwischen richtige Familienrituale entstanden sind.« Familienrituale. Die hatten Dad und ich auch gehabt. Jetzt, wo er tot war, kehrten die Erinnerungen daran zurück. Jeden Tag fielen mir neue schöne Episoden aus der Vergangenheit ein. Ich dachte an unsere gemütlichen Sonntagsfrühstücke, an Spaziergänge am Fluss, als er mich immer an die Hand genommen hatte, an Kirchenbesuche, bei denen er mir die bunten Fenster erklärt hatte. Es waren kostbare Erinnerungen voller Zärtlichkeit.
»Jeremy und Sarah vermissen ihre Töchter. Ich bin so etwas wie ein Ersatz für sie«, erklärte ich Zac. »Ich glaube, es lenkt Sarah von ihren Sorgen um Miranda ab, wenn sie sich um mich kümmern kann.«
»Das ist die jüngere Tochter, oder?«
»Genau. Sie leidet an Magersucht. Und ihre Eltern können ihr kaum helfen, weil sie sie nicht an sich ranlässt.«
Zac nickte. »Das muss sehr schwer für sie sein.«
»Jo hat mir angeboten, bei ihr einzuziehen«, sagte ich. »Aber ich habe abgelehnt.«
»Würdest du dich bei ihr denn nicht wohler fühlen?«
»Seltsamerweise nicht. Jos Wohnung erinnert mich viel zu sehr an das Haus ihrer Eltern. Außerdem will ich ihr und Dominic nicht im Weg stehen.«
Zac lächelte und schaute in die Ferne.
»Was ist los?«, fragte ich. Ich hatte das Gefühl, dass nun alle Barrieren zwischen uns aus dem Weg geräumt waren. Er hielt seinen Finger dicht an die Flamme der Kerze, dachte offenbar nach; dann schien er eine Entscheidung getroffen zu haben.
»Fran«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Ich muss dir etwas sagen. Ich werde von hier weggehen.«
»Weggehen? Was meinst du damit?«
»Während meiner Krankheit hatte ich Zeit nachzudenken. Über Olivia. Ich muss sie suchen, Fran.«
Ich sah ihn erstaunt an. »Aber du hast doch gesagt, du würdest niemals dorthin gehen, wo …«
»… ich nicht erwünscht bin. Ja, das stimmt.« Er nickte. »Aber Amber hat etwas gesagt, was mich nachdenklich gestimmt hat. Sie ist ein sehr kluges Mädchen. Sie hat mich gefragt, ob ich zufrieden damit sei, Olivia nicht zu sehen. Und ich sagte: ›Nein, natürlich nicht. Es macht mich verrückt.‹ Darauf meinte sie … Sie meinte, ich solle meinen Stolz überwinden, mich auf den Weg machen und sehen, was passiert. Sie sagte, wenn man eine Person liebt, müsse man um sie kämpfen. Natürlich gibt es auch eine Zeit, wo man sich zurückhalten und abwarten muss, aber das habe ich jetzt lange genug getan.«
»Ja.« Ich war wie betäubt. »Aber wo willst du sie suchen? Ich dachte, sie wäre umgezogen. Wie lange wirst du weg sein?«
»Ich werde mit ihrer letzten Adresse anfangen. Keine Ahnung, wie lange ich
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