Der Zauber des Engels
sitzen als bei den vorherigen Proben. Die stärksten Sänger, die Woche für Woche vorn gesessen hatten, verschwanden aus irgendeinem Grund plötzlich nach hinten; Leute wie ich und Jo, die sich gern im Hintergrund halten, fanden sich auf einmal ganz vorn wieder, ausgesetzt und orientierungslos, mit den Ellbogen der Geiger im Gesicht.
Ben sah angespannt aus, was kein Wunder war. Die Probe am letzten Montag war eine Katastrophe gewesen. Die meisten kannten ihre Partien zwar inzwischen, aber nicht gut genug, um ohne Notenblatt auszukommen.
Heute, im Beisein des Orchesters und der Solisten, musste er sich zusammenreißen. Val und er hatten ihre Sache gut gemacht. Wir hatten nicht nur Julian Wright als ausdrucksstarken Gerontius gewinnen können, sondern außerdem einen fantastischen Mezzosopran als seinen Schutzengel und einen tiefen Bass-Bariton, der den Leidensengel sang. Ihre Lebensläufe im Programmheft lasen sich jedenfalls fantastisch. Unglaublich, dass es Ben und Val gelungen war, sie für solch ein Amateurkonzert zu verpflichten.
Am Ende des Nachmittags erinnerte Val uns noch einmal an die Kleiderordnung für die Aufführung – schwarz und weiß – und daran, dass wir für die Party danach etwas zu essen mitbringen sollten. Wein würde gestellt. Wir packten plaudernd zusammen und ich verabschiedete mich von Jo. Dabei registrierte ich zufrieden, dass sie mit Dominic verschwand. Aber meine Aufmerksamkeit galt eigentlich Ben. So grimmig hatte ich ihn noch nie gesehen. Ich wartete vor der Tür und hielt ihn am Arm fest, als er kam.
»Oh, hi«, sagte er, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Wie geht’s?« Er nahm meine Hand und bedachte mich mit einem seiner intensiven Blicke.
»Gut«, antwortete ich und zog meine Hand fort. »Aber du siehst gar nicht glücklich aus. Waren wir denn wirklich so schlecht?«
»Nein. Na ja, ich werde schon ein bisschen nervös. Aber ich bin sicher, es wird alles klappen.«
»Es sind ja nur zwei Stunden«, beruhigte ich ihn. »So, ich muss jetzt los. Und du solltest dich ein bisschen ausruhen.«
»Das tue ich auch, aber erst muss ich was essen. Fran, du kommst doch hinterher noch mit zur Party, oder?«
»Klar«, antwortete ich und ärgerte mich, dass meine Stimme so zittrig klang.
»Dann bis später«, sagte er, und ich spürte wieder dieses flattrige Gefühl im Magen. Fing die Geschichte etwa wieder ganz von vorn an?
Es war zwar nur ein Amateurkonzert, doch das schönste, an dem ich je teilgenommen hatte.
Da es inzwischen Advent war, gab es in der Kirche keinerlei Blumenschmuck. Dafür brannten auf jeder Fensterbank und an dem riesigen Weihnachtsbaum im Altarraum Kerzen und verbreiteten eine wunderbar romantische Stimmung. Auch unsere Zuschauer waren fasziniert. Staunend sahen sie sich um, während sie sich in die letzten Ecken zwängten und darauf warteten, dass wir anfingen. Ganz vorn saßen Jeremy und seine Frau, dahinter Amber mit einer Freundin aus dem Heim, und schließlich – war er das tatsächlich? Ja. Erleichtert sah ich, dass Zac in der letzten Minute hereinkam und sich in eine Bankreihe auf den wirklich allerletzten Platz setzte.
Dann betrat das Orchester unter Applaus die Bühne, gefolgt von der Ersten Geige – Nina, elegant und streng gekleidet –, den Solisten, der Mezzosopranistin in funkelndem Mitternachtsblau, die Männer in Fräcken. Aber neben Ben verblassten alle. Ich hielt den Atem an, als er auf seinen Platz in der Bühnenmitte eilte und sich tief verneigte. Das blonde Haar fiel ihm auf den hohen weißen Kragen; ein Kummerbund in derselben Farbe wie das Kleid der Mezzosopranistin betonte seine schmalen Hüften.
Die Streichinstrumente setzten als Erste ein. Warm und wunderschön schwebten die Klänge der Celli über unsere Köpfe hinweg.
Als wir sangen, wurde mir klar, dass wir nun ein kleiner Teil eines großen Dramas waren; des größten Dramas von allen, einer Seelenreise. Denn auch wenn wir zusammengehören, zusammen singen, lachen, weinen und streiten, müssen wir jene letzte Reise in die Dunkelheit am Ende doch allein antreten. Gerontius zeigte uns den Weg, verließ seine trauernden Freunde; aber dann trug ihn sein Engel, stützte ihn und geleitete ihn sicher an den Teufeln am Tor zum Jüngsten Gericht vorbei und half ihm bei seiner Reise durch Reue zur Erlösung und zur Verheißung ewiger Freude.
Ich musste die ganze Zeit an meinen Vater denken, natürlich. Insgeheim hatte ich ihm dieses Konzert gewidmet. Ich wünschte mir, dass
Weitere Kostenlose Bücher