Der Zauber einer Winternacht
litten.
Wenn ihr Vater den Verdacht hegte, es könne etwas nicht in Ordnung sein, so behielt er das für sich. Seitdem sie ihm in einem Streit vorgeworfen hatte, das gesamte Weihnachtsdrama inszeniert zu haben, um sie und Bryce miteinander auszusöhnen, behandelte er seine Tochter wie ein rohes Ei.
Er hatte nicht widersprochen.
Und Gillian hatte zu ihrer großen Verwunderung festgestellt, dass sie ihm gar nicht mehr böse war.
Etwa zwei Wochen später war Gillian in der Küche damit beschäftigt, Plätzchen zu backen. Sie drückte eine Hand ins Kreuz und streckte sich wohlig wie eine Katze, die sich nach einem sonnigen Schlafplatz umschaut. Seit Kurzem hatte sie einen Heißhunger auf Schokolade. Und Sauerkraut. Und den Anblick der Grand Tetons vor dem Fenster. Und von Zeit zu Zeit beschlich sie dieses verrückte Gefühl von Leichtigkeit, das sie unwillkürlich grinsen ließ.
Obwohl ihr das Schicksal wieder mal einen Streich gespielt hatte, fühlte sich Gillian viel glücklicher als noch vor einem Jahr. Weit davon entfernt, so vollkommen zu sein wie früher, vor dem schweren Schlag, der sie völlig aus der Bahn geworfen hatte, hatte ihr Leben doch eine glückliche Wendung genommen. Es ging ihr jetzt wesentlich besser als in jenen grauenvollen Tagen unmittelbar nach der Scheidung.
Verständlicherweise fiel es ihr jetzt noch schwerer als zuvor, Bryce loszulassen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sich wieder und wieder ungebeten in ihre Gedanken drängen würde. Ein Gänsepaar auf dem Weg zum zugefrorenen Bach ließ in Gillian Sehnsucht aufkommen nach einem Partner. Das Röhren eines brünstigen Elches im Wald weckte in ihr den Wunsch, ähnlich innig umworben zu werden. Die Sterne einer wolkenlosen Nacht erinnerten sie an seine Augen …
Als im selben Moment die Türglocke ging, stellte Gillian sich sofort vor, auf der Schwelle stehe ein blonder Adonis mit einem Rosenstrauß und einem Diamantring und warte ungeduldig darauf, dass sie ihm öffnete.
„Gehst du bitte an die Tür?“, rief ihr Vater aus dem Bad.
Gillian schob das Backblech in den Ofen und stellte den Küchenwecker, bevor sie in die Diele hinaustrat. Sie wischte sich hastig die Hände an der Schürze ab, riss die Tür auf – und wurde mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die wenig mit ihren Tagträumereien zu tun hatte. Vor ihr stand Bryce.
Ohne Rosenstrauß.
Und ohne Lächeln auf den Lippen.
Gillian fiel das Atmen schwer, und das lag nicht an der Höhenluft. Unter seinem brennenden Blick wurde ihr bewusst, dass es viel sicherer war, diesen Mann aus der Entfernung zu lieben, als ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken, und sie stützte sich rasch an der Wand ab. Gillian schluckte und rang um Fassung.
Verlegen strich sie sich übers Haar. Ihr neues Leben war frei von regelmäßigen Verabredungen, und dem Vieh war es egal, wie sie aussah. Deshalb hatte sie jeden städtischen Schick abgelegt, seit sie wieder zu Hause lebte. Ihre Haare hätten längst einen neuen Schnitt vertragen können, und sie hatte auch heute Morgen auf Lippenstift und Wimperntusche verzichtet.
Als sie sich endlich einigermaßen gefangen hatte, stammelte sie: „Was machst du denn hier?“
„Ich muss mit dir reden.“
Gillian nickte stumm und trat beiseite, um Bryce einzulassen. Dann verbarg sie ihre zitternden Hände in den Taschen der Küchenschürze.
Ihr fiel einfach kein Grund ein, warum er sie so hart und prüfend musterte, es sei denn …
Es sei denn, Daddy hat wieder in die Trickkiste gegriffen und ihm gesagt, dass ich schwanger bin!
Aber das konnte nicht sein. Sie hatte ihrem Vater nichts von der Schwangerschaft erzählt, und er konnte es eigentlich nicht erraten haben. Vielleicht hatten ihn ihre unstillbaren Gelüste nach Schokolade und Sauerkraut auf die richtige Fährte geführt? Die Tatsache, dass sie täglich Mittagsschlaf hielt? Oder war es nur ein Wunschgedanke von ihm?
In der kurzen Zeit, die Bryce brauchte, um seinen Mantel abzulegen und sich auf die Wohnzimmercouch zu setzen, hatte Gillian sich schon halbwegs verrückt gemacht. Hatte ihr Vater die Information etwa Dr. Schuler entlockt? Egal! Was auch immer er vermuten mochte, er hatte nicht das Recht, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen.
Wenn er sich nicht ausgerechnet jetzt im Badezimmer eingeschlossen hätte, hätte Gillian ihn wahrscheinlich auf der Stelle einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen.
„Was willst du?“,
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