Der Zauber einer Winternacht
das nach wie vor nicht glauben. Vor allem dann nicht, wenn wieder mal jemand die gedankenlose Frage stellte, warum sie nicht einfach ein anderes Kind bekäme, um das verlorene Baby zu ersetzen. Als ob das so einfach wäre.
Bryce fuhr fort: „Weißt du, ich würde liebend gern jede Minute opfern, die ich meiner Karriere gewidmet habe, wenn ich dafür nur mehr Zeit mit unserem kleinen Mädchen bekommen könnte. Ich würde jeden Cent, den ich besitze, für eine zweite Chance geben, zwischen uns alles wieder in Ordnung zu bringen.“
„Schhhhh …“, flüsterte Gillian und legte einen Finger auf seine Lippen, die noch von ihren Küssen geschwollen waren, um seinen Redefluss zu stoppen. Seine Worte kamen vom Grunde seines Herzens und waren Balsam für ihre wunde Seele. Sie würde sie bis ans Ende ihrer Tage in Erinnerung behalten.
Gillian konnte nicht länger leugnen, dass sie nichts auf der Welt so sehr wollte wie Bryce. Kein Haus, kein Heim, keine Sicherheit, nicht einmal ein zweites Kind – obwohl sie sich danach ganz sicher immer sehnen würde.
Natürlich war ihr klar, dass es besser war, sich nicht in Wunschdenken zu flüchten. Dennoch beschloss sie: Morgen war auch noch ein Tag, morgen würde sie der Wirklichkeit ins Auge sehen. Heute Nacht aber würde sie die Geschichte ihres Lebens neu schreiben – wenn auch nur in ihren Träumen.
Hin- und hergerissen zwischen ihrem verzweifelten Verlangen nach diesem Mann und der Notwendigkeit, ihn ohne Groll ziehen zu lassen, nutzte sie die folgenden Stunden, um sich alle Einzelheiten dieser Liebesnacht tief einzuprägen. Es waren Erinnerungen, die den Rest ihres Lebens vorhalten mussten: sein Duft, das Salz auf seiner Haut, die festen Muskeln unter ihren Fingerspitzen, die sanfte Berührung seiner Lippen, sein seidig-weiches Haar, das gleichmäßige Heben und Senken seiner Brust bei jedem Atemzug.
Als Gillian in der Morgendämmerung erwachte, konnte sie Bryce im Nebenzimmer gedämpft mit Vi telefonieren hören. Kurz darauf – und für Gillian kein bisschen überraschend – wurde draußen ein Motorschlitten gestartet und fuhr vom Hof. Sie lauschte dem Motorengeräusch nach, bis es in der Ferne verklang.
15. KAPITEL
Weil der Boden gefroren war, konnten sie kein Grab schaufeln. Dustin benutzte daher den Pflug, um ein Stück Erde im Espenhain hinter dem Haus aufzubrechen. Er wirkte erleichtert, als Gillian ihm für seine Hilfe dankte und erklärte, den Rest würde sie selbst erledigen.
„Das ist das Mindeste, was ich für einen so treuen Begleiter tun kann“, erläuterte sie.
Nachdem sie die letzte Schaufel Erde festgeklopft hatte, sagte sie dem einzigen Freund Lebewohl, der sie immer bedingungslos geliebt und beschützt hatte, ohne an die eigene Sicherheit zu denken. Ihr Vater hatte behauptet, ihm sei kalt, und war ins Haus zurückgeeilt, damit sie ihn nicht weinen sah.
Er beobachtete vom Fenster aus, wie seine Tochter im Schnee niederkniete. Sie betete darum, dass es jedem, den sie liebte, eines Tages so leicht werden würde, die Welt zu verlassen, wie Padre. Der alte Hund war sanft vom Schlaf in den Tod hinübergeglitten.
Gillian hatte nicht geweint, seit Bryce abgereist war, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Aber jetzt fiel es ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten. Sie konnte den nahe gelegenen Bach unterm Eis plätschern hören – ein Versprechen des kommenden Frühlings, auch wenn er noch eine Weile auf sich warten lassen würde. Unter dem Schnee warteten grüne Triebe auf das Erwachen aus dem Winterschlaf.
Diese Vorstellung weckte aufs Neue die Hoffnung in ihr, die an jenem Morgen mit dem sich entfernenden Geräusch des Motorschlittens gestorben war. Wenn die Natur wie durch ein Wunder jedes Jahr neu zum Leben erwachte, warum sollte der menschliche Geist nicht auch zu einer solchen Wiedergeburt fähig sein? Der Gedanke gefiel Gillian.
Um sich selbst den Neuanfang zu erleichtern, stellte sie sich vor, wie Vi Bryce seinen Seitensprung verzieh – unter der Bedingung, dass er versprach, seine Exfrau nie wieder zu erwähnen.
Das wäre nicht zu viel verlangt.
Trotzdem verursachte ihr der Gedanke an das glückliche Paar – Arm in Arm auf der Couch, Robbie zu ihren Füßen spielend – heftige Übelkeit. Nachts sah sie die beiden in inniger Umarmung im Bett vor sich, und sie wälzte sich schlaflos hin und her. Kein Wunder, dass sie sich ständig müde fühlte. Und dass ihre Regel ausgeblieben war.
Es war einfach, die Schuld für
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