Der Zauberberg
miteinander verleben sollen, eine lange Reihe, nicht leicht zu übersehen am Anfang. Und nun waren auf einmal nur noch drei, vier geringfügige Tage davon übrig, ein wenig beträchtlicher Restbestand, etwas beschwert allerdings durch die beiden periodischen Abwandlungen des Normaltages, aber schon erfüllt von Pack- und Abschiedsgedanken. Drei Wochen waren eben so gut wie nichts hier oben, – sie hatten es ihm ja alle gleich gesagt. Die kleinste Zeiteinheit war hier der Monat, hatte Settembrini gesagt, und da Hans Castorps Aufenthalt sich unter dieser Größe hielt, so war er eben ein Nichts von einem Aufenthalt und eine Stippvisite, wie Hofrat Behrens sich ausgedrückt hatte. Ob es vielleicht an der erhöhten Allgemeinverbrennung lag, daß die Zeit hier so im Handumdrehen verging? Solche Raschlebigkeit war ja ein Trost für Joachim in Hinsicht auf die fünf Monate, die ihm noch bevorstanden, falls es bei fünfen sein Bewenden haben würde. Aber während dieser drei Wochen hätten sie der Zeit etwas besser aufpassen sollen, so, wie es während des Messens geschah, wo dann die vorgeschriebenen sieben Minuten zu einer so bedeutenden Zeitspanne wurden … Hans Castorp fühlte herzliches Mitleid mit seinem Vetter, dem die Trauer über den nahe bevorstehenden Verlust des menschlichen Gesellschafters in den Augen zu lesen war, – fühlte in der Tat das stärkste Mitleid mit ihm, wenn er bedachte, daß der Arme nun immerfort ohne ihn hierbleiben sollte, während er selbst wieder im Flachland lebte und im Dienste der völkerverbindenden Verkehrstechnik tätig war: ein geradezu brennendes Mitleid, schmerzhaft für die Brust in gewissen Augenblicken und, kurz, so lebhaft, daß er zuweilen ernstlich daran zweifelte, ob er es über sich gewinnen und Joachim allein würde hier oben lassen können. So sehr also brannte ihn manchmal das Mitleid, und dies war denn auch wohl der Grund, weshalb er selbst, von sich aus, weniger und weniger {249} von seiner Abreise sprach: Joachim war es, der hin und wieder das Gespräch darauf brachte; Hans Castorp, wie wir sagten, schien aus natürlichem Takt und Feingefühl bis zum letzten Augenblick nicht daran denken zu wollen.
»Nun wollen wir wenigstens hoffen,« sagte Joachim, »daß du dich erholt hast bei uns und die Erfrischung spürst, wenn du hinunterkommst.«
»Ja, ich werde also allerseits grüßen,« erwiderte Hans Castorp, »und sagen, daß du spätestens in fünf Monaten nachkommst. Erholt? Du meinst, ob
ich
mich erholt habe in diesen paar Tagen? Das will ich doch annehmen. Eine gewisse Erholung muß selbst in so kurzer Zeit doch am Ende wohl stattgefunden haben. Allerdings waren es ja so neuartige Eindrücke hier oben, neuartig in jeder Beziehung, sehr anregend, aber auch anstrengend für den Geist und den Körper, ich habe nicht das Gefühl, mit ihnen schon fertig geworden zu sein und mich akklimatisiert zu haben, was doch wohl die Vorbedingung aller Erholung wäre. Maria ist gottlob die alte, seit einigen Tagen bin ich ihr wieder auf den Geschmack gekommen. Aber von Zeit zu Zeit wird immer noch mein Taschentuch rot, wenn ich es benutze, und die verdammte Hitze im Gesicht mitsamt dem sinnlosen Herzklopfen werde ich auch, wie es scheint, bis zum Schluß nicht mehr loswerden. Nein, nein, von Akklimatisation kann man bei mir nicht gut reden, wie sollte man auch nach so kurzer Zeit. Da brauchte es länger, um sich hier zu akklimatisieren und mit den Eindrücken fertig zu werden, und dann könnte die Erholung beginnen und das Ansetzen von Eiweiß. Schade. Ich sage ›schade‹, weil es entschieden fehlerhaft war, daß ich mir nicht mehr Zeit für diesen Aufenthalt vorbehielt, – zur Verfügung wär sie ja schließlich gewesen. So ist mir zumute, als ob ich mich zu Hause im Flachland vor allem einmal von der Erholung werde erholen müssen und drei Wochen schlafen, so abgearbeitet komme ich mir manchmal vor. Und nun kommt ja ärgerlicherweise dieser Katarrh hinzu …«
{250} Es hatte nämlich den Anschein gewonnen, als ob Hans Castorp mit einem Schnupfen erster Klasse im Flachlande wieder eintreffen sollte. Er hatte sich erkältet, wahrscheinlich in der Liegekur, und zwar, um nochmals zu mutmaßen, in der Abendliegekur, an der er sich seit etwa einer Woche beteiligte, trotz des naßkalten Wetters, das sich vor seiner Abreise nicht mehr bessern zu wollen schien. Er hatte aber erfahren, daß es als schlecht nicht anerkannt wurde; der Begriff des schlechten Wetters bestand
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