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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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überhaupt nicht zu Recht hier oben, man fürchtete kein Wetter, man nahm kaum Rücksicht darauf, und mit der weichen Gelehrigkeit der Jugend, ihrer ganzen Anpassungswilligkeit an die Gedanken und Gebräuche der Umgebung, in die sie sich eben versetzt findet, hatte Hans Castorp angefangen, sich diese Gleichgültigkeit zu eigen zu machen. Wenn es wie aus Kannen goß, so durfte man nicht glauben, daß deshalb die Luft weniger trocken sei. Das war sie wohl wirklich nicht, denn nach wie vor hatte man einen so heißen Kopf davon, wie von der einer überheizten Stube, oder als ob man viel Wein getrunken. Was aber die Kälte anging, die erheblich war, so hätte es wenig Vernunft gehabt, sich vor ihr ins Zimmer zu flüchten; denn da es nicht schneite, wurde nicht geheizt, und im Zimmer zu sitzen war keineswegs behaglicher, als, im Winterpaletot und nach der Kunst in seine zwei guten Kamelhaardecken verpackt, in der Balkonloge zu liegen. Im Gegenteile und umgekehrt: dies letztere war das ganz unvergleichlich Behaglichere, es war, schlechthin geurteilt, die ansprechendste Lebenslage, die Hans Castorp je erprobt zu haben sich erinnerte, – ein Urteil, in dem er sich dadurch nicht beirren ließ, daß irgendein Schriftsteller und Carbonaro sie mit einem boshaften Unter- und Nebensinn die »horizontale« Lebenslage nannte. Namentlich am Abend fand er sie ansprechend, wenn neben einem auf dem Tischchen das Lämpchen glühte und man, warm in den Decken, die wieder schmeckende Maria {251} zwischen den Lippen und im Genuß aller schwer bestimmbaren Vorzüge des hiesigen Liegestuhltypus, mit freilich eisiger Nasenspitze und ein Buch – es war immer noch »Ocean steamships« – in den freilich arg verklammten, rot angelaufenen Händen, durch die Bogen der Loggia über das dunkelnde, mit hier zerstreuten, dort dicht zusammentretenden Lichtern geschmückte Tal hinblickte, aus welchem fast jeden Abend und wenigstens eine Stunde lang Musik herauftönte, angenehm abgedämpfte, vertraut melodische Klänge: Opernfragmente waren es, Stücke aus »Carmen«, aus dem »Troubadour« oder dem »Freischütz«, wohlgebaute, zügige Walzer sodann, Märsche, bei denen man hochgemut den Kopf hin und her wandte, und muntere Mazurken. Mazurka? Marusja hieß sie eigentlich, die mit dem kleinen Rubin, und in der Nachbarloge, hinter der dicken Milchglaswand, lag Joachim, – dann und wann wechselte Hans Castorp ein vorsichtiges Wort mit ihm, unter voller Rücksichtnahme auf die anderen Horizontalen. Joachim hatte es in seiner Loge ebensogut wie Hans Castorp, wenn er auch unmusikalisch war und sich an den Abendkonzerten nicht so zu freuen verstand. Schade für ihn; er las wohl statt dessen in seiner russischen Grammatik. Hans Castorp aber ließ »Ocean steamships« auf der Decke liegen und lauschte mit herzlicher Teilnahme auf die Musik, blickte wohlgefällig in die durchsichtige Tiefe ihrer Faktur und empfand so inniges Vergnügen an einer charakter- und stimmungsvollen melodischen Eingebung, daß er sich zwischendurch nur mit Feindseligkeit an Settembrinis Äußerungen über die Musik erinnerte, Äußerungen, so ärgerlich wie die, daß die Musik politisch verdächtig sei, – was in der Tat nicht viel besser war, als Großvater Giuseppes Redensart von der Julirevolution und den sechs Tagen der Weltschöpfung …
    Joachim also war des musikalischen Genusses nicht so teilhaftig, und auch die würzige Unterhaltung des Rauchens war {252} ihm fremd; sonst aber lag er ebenso wohlgeborgen in seiner Loge, geborgen und befriedet. Der Tag war zu Ende, für diesmal war alles zu Ende, man war sicher, daß heute nichts mehr geschehen, keine Erschütterungen sich mehr ereignen, keine Zumutungen an die Herzmuskulatur mehr gestellt werden würden. Zugleich aber war man sicher, daß
morgen
dies alles mit all der Wahrscheinlichkeit, die sich aus der Enge, Gunst und Regelmäßigkeit der Umstände ergab, wieder der Fall sein und von vorn beginnen werde; und diese doppelte Sicherheit und Geborgenheit war überaus behaglich, sie gestaltete zusammen mit der Musik und der wiedergefundenen Würze Marias die Abendliegekur für Hans Castorp zu einer wahrhaft glücklichen Lebenslage.
    Das alles nun aber hatte also nicht gehindert, daß der Hospitant und weiche Neuling sich in der Liegekur (oder wie und wo nun immer) tüchtig erkältet hatte. Ein schwerer Schnupfen schien im Anzuge, er saß ihm in der Stirnhöhle und drückte, das Zäpfchen im Halse war weh und wund, die Luft

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