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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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ging ihm nicht wie sonst durch den von der Natur hierzu vorgesehenen Kanal, sondern strich kalt, behindert und Hustenkrampf unaufhörlich erregend hindurch; seine Stimme hatte über Nacht die Klangfarbe eines dumpfen und wie von starken Getränken verbrannten Basses angenommen, und seiner Aussage nach hatte er in eben dieser Nacht kein Auge zugetan, da eine erstickende Trockenheit des Schlundes ihn je und je hatte vom Kissen auffahren lassen.
    »Höchst ärgerlich,« sagte Joachim, »ist das und beinahe peinlich. Erkältungen, mußt du wissen, sind hier nicht reçus, man leugnet sie, sie kommen offiziell bei der großen Lufttrockenheit nicht vor, und als Patient würde man übel anlaufen bei Behrens, wenn man sich erkältet melden wollte. Aber bei dir ist es ja etwas anderes, du hast am Ende das Recht dazu. Es wäre doch gut, wenn wir den Katarrh noch abschneiden könnten, im {253} Flachlande kennt man ja Praktiken, hier aber – ich zweifle, ob man sich hier genügend dafür interessieren wird. Krank soll man hier lieber nicht werden, es kümmert sich niemand darum. Das ist eine alte Lehre, du erfährst es nun auch noch zu guter Letzt. Als ich ankam, war hier eine Dame, die hielt sich die ganze Woche ihr Ohr und jammerte über Schmerzen, und schließlich sah Behrens es an. ›Sie können ganz beruhigt sein,‹ sagt’ er, ›tuberkulös ist es nicht.‹ Dabei hatte es sein Bewenden. Ja, wir müssen sehn, was sich tun läßt. Ich werde es morgen früh dem Bademeister sagen, wenn er zu mir kommt. Das ist der Dienstweg, und er wird es schon weitergeben, so daß dann doch vielleicht etwas für dich geschieht.«
    So Joachim; und der Dienstweg bewährte sich. Schon als Hans Castorp am Freitag von der Morgenmotion in sein Zimmer zurückkehrte, klopfte es bei ihm, und es ergab sich für ihn die persönliche Bekanntschaft mit dem Fräulein von Mylendonk oder der »Frau Oberin«, wie sie genannt wurde, – bisher hatte er die offenbar Vielbeschäftigte immer nur von weitem erblickt, wie sie, aus einem Krankenzimmer kommend, den Korridor überquerte, um in ein gegenüberliegendes einzutreten, oder sie flüchtig im Speisesaal auftauchen sehen und ihre quäkende Stimme vernommen. Nun also galt ihm selbst ihr Besuch; durch seinen Katarrh herbeigezogen, klopfte sie knöchern hart und kurz an seine Stubentür und trat ein, fast bevor er Herein gesagt, indem sie sich auf der Schwelle noch einmal zurückbeugte, um sich der Zimmernummer gewiß zu machen.
    »Dreiundvierzig«, quäkte sie ungedämpft. »Es stimmt. Menschenskind, on me dit, que vous avez pris froid, I hear, you have caught a cold, Wy, kaschetsja, prostudilisj, ich höre, Sie sind erkältet? Wie soll ich reden mit Ihnen? Deutsch, ich sehe schon. Ach, der Besuch vom jungen Ziemßen, ich sehe schon. Ich muß in den Operationssaal. Da ist einer, der wird chloroformiert und hat Bohnensalat gegessen. Wenn man seine Augen nicht {254} überall hat … Und Sie, Menschenskind, wollen sich hier erkältet haben?«
    Hans Castorp war verblüfft über diese Redeweise einer altadligen Dame. Während sie sprach, ging sie über ihre eigenen Worte hinweg, indem sie unruhig, in rollender, schleifenförmiger Bewegung den Kopf mit suchend erhobener Nase hin und her wandte, wie Raubtiere im Käfig tun, und ihre sommersprossige Rechte, leicht geschlossen und den Daumen nach oben, vor sich im Handgelenk schlenkerte, als wollte sie sagen: »Rasch, rasch, rasch! Hören Sie nicht auf das, was ich sage, sondern reden Sie selbst, daß ich fortkomme!« Sie war eine Vierzigerin, kümmerlichen Wuchses, ohne Formen, angetan mit einem weißen, gegürteten, klinischen Schürzenkleid, auf dessen Brust ein Granatkreuz lag. Unter ihrer Schwesternhaube kam spärliches rötliches Haar hervor, ihre wasserblauen, enzündeten Augen, an deren einem zum Überfluß ein in der Entwicklung sehr weit vorgeschrittenes Gerstenkorn saß, waren unsteten Blicks, die Nase aufgeworfen, der Mund froschmäßig, außerdem mit schief vorstehender Unterlippe, die sie beim Sprechen schaufelnd bewegte. Indessen Hans Castorp betrachtete sie mit all der bescheiden duldsamen und vertrauensvollen Menschenfreundlichkeit, die ihm angeboren war.
    »Was ist denn das für eine Erkältung, he?« fragte die Oberin wieder, indem sie ihre Augen durchdringend zu machen suchte, was aber nicht gelang, da sie abschweiften. »Wir lieben solche Erkältungen nicht. Sind Sie öfter erkältet? War Ihr Vetter nicht auch so oft erkältet? Wie alt sind

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