Der Zauberberg
Sie denn? Vierundzwanzig? Das Alter hat’s in sich. Und nun kommen Sie hier herauf und sind erkältet? Wir sollten hier nicht von ›Erkältung‹ reden, geehrtes Menschenskind, das ist so ein Schnickschnack von unten.« (Das Wort »Schnickschnack« nahm sich ganz abscheulich und abenteuerlich aus in ihrem Munde, wie sie es mit {255} der Unterlippe schaufelnd hervorbrachte.) »Sie haben den wunderschönsten Katarrh der Luftwege, das gebe ich zu, das sieht man Ihnen an den Augen an –« (Und wieder machte sie den sonderbaren Versuch, ihm durchdringend in die Augen zu blicken, ohne daß es ihr recht gelingen wollte.) »Aber Katarrhe kommen nicht von der Kälte, sondern sie kommen von einer Infektion, für die man aufnahmelustig war, und es fragt sich nur, ob eine unschuldige Infektion vorliegt oder eine weniger unschuldige, alles andere ist Schnickschnack.« (Schon wieder das schauderhafte »Schnickschnack«!) »Ist ja möglich, daß Ihre Aufnahmelustigkeit mehr zum Harmlosen neigt«, sagte sie und sah ihn an mit ihrem vorgeschrittenen Gerstenkorn, er wußte nicht, wie. »Hier haben Sie ein harmloses Antiseptikum. Wird Ihnen möglicherweise gut tun.« Und sie holte aus der schwarzen Ledertasche, die ihr am Gürtel hing, ein Päckchen hervor, das sie auf den Tisch stellte. Es war Formamint. »Übrigens sehen Sie angeregt aus; als ob Sie Hitze hätten.« Und sie ließ nicht ab, ihm in das Gesicht zu blicken, aber immer mit etwas beiseite gehenden Augen. »Haben Sie sich gemessen?«
Er verneinte.
»Warum nicht?« fragte sie und ließ ihre schräg vorgeschobene Unterlippe in der Luft stehen …
Er verstummte. Der Gute war noch so jung, er hatte sich noch das Verstummen des Schuljungen bewahrt, der in der Bank steht, nichts weiß und schweigt.
»Messen Sie sich etwa überhaupt nie?«
»Doch, Frau Oberin. Wenn ich Fieber habe.«
»Menschenskind, man mißt sich in erster Linie, um zu sehen,
ob
man Fieber hat. Und jetzt haben Sie Ihrer Meinung nach keins?«
»Ich weiß nicht recht, Frau Oberin; ich kann es nicht recht unterscheiden. Ein bißchen heiß und frostig bin ich schon seit meiner Ankunft hier oben.«
{256} »Aha. Und wo haben Sie Ihr Thermometer?«
»Ich habe keins bei mir, Frau Oberin. Wozu, ich bin ja nur zu Besuch hier, ich bin gesund.«
»Schnickschnack! Haben Sie mich gerufen, weil Sie gesund sind?«
»Nein,« lachte er höflich, »sondern weil ich mich etwas –«
»– Erkältet habe. Solche Erkältungen sind uns schon öfter vorgekommen. Hier!« sagte sie und kramte wieder in ihrer Tasche, um zwei längliche Lederetuis zum Vorschein zu bringen, ein schwarzes und ein rotes, die sie ebenfalls auf den Tisch legte. »Dieser hier kostet drei Franken fünfzig und der hier fünf Franken. Besser fahren Sie natürlich mit dem zu fünf. Das ist etwas fürs Leben, wenn Sie ordentlich damit umgehen.«
Er nahm lächelnd das rote Etui vom Tisch und öffnete es. Schmuck wie ein Geschmeide lag das gläserne Gerät in die genau nach seiner Figur ausgesparte Vertiefung der roten Samtpolsterung gebettet. Die ganzen Grade waren mit roten, die Zehntelgrade mit schwarzen Strichen markiert. Die Bezifferung war rot, der untere, verjüngte Teil mit spiegelig glänzendem Quecksilber gefüllt. Die Säule stand tief und kühl, weit unter dem Normalgrade tierischer Wärme.
Hans Castorp wußte, was er sich und seinem Ansehen schuldig war.
»Ich nehme diesen«, sagte er, ohne dem anderen nur Beachtung zu schenken. »Den hier zu fünf. Darf ich Ihnen sofort …«
»Abgemacht!« quäkte die Oberin. »Nur nicht knausern bei wichtigen Anschaffungen! Eilt nicht, es kommt auf die Rechnung. Geben Sie her, wir wollen ihn erst noch recht klein machen, ganz hinunterjagen – so.« Und sie nahm ihm das Thermometer aus der Hand, stieß es wiederholt in die Luft und trieb so das Quecksilber noch tiefer, bis unter 35 hinab. »Wird schon steigen, wird schon emporwandern, der Merkurius!« {257} sagte sie. »Hier haben Sie Ihre Erwerbung! Sie wissen doch wohl, wie es gemacht wird bei uns? Unter die werte Zunge damit, auf sieben Minuten, viermal am Tag, und gut die geschätzten Lippen drum schließen. Adieu, Menschenskind! Wünsche gute Ergebnisse!« Und sie war aus dem Zimmer.
Hans Castorp, der sich verbeugt hatte, stand am Tische und sah auf die Tür, durch die sie verschwunden war, und auf das Instrument, das sie zurückgelassen. »Das war nun die Oberin von Mylendonk«, dachte er. »Settembrini mag sie nicht, und wahr ist es, sie
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