Der Zauberberg
über dem gesegneten Ausbruch die ganze Welt vergäße. Und manchmal komme es zwei-, dreimal hintereinander. Das seien kostenfreie Genüsse des Lebens, wie beispielsweise auch noch, sich im Frühling die Frostbeulen zu kratzen, wenn sie so süßlich juckten, – sich so recht innig und grausam zu kratzen bis aufs Blut in Wut und Vergnügen, und wenn man zufällig in den Spiegel sähe dabei, dann sähe man eine Teufelsfratze.
So schauderhaft eingehend redete die ungebildete Stöhr, bis die kurze, wenn auch reichhaltige Zwischenmahlzeit beendigt war und die Vettern ihren zweiten Vormittagsgang antraten, den Gang hinunter nach Platz Davos. Joachim war in sich gekehrt unterwegs, und Hans Castorp ächzte vor Schnupfen und räusperte sich aus rostiger Brust. Auf dem Heimwege sagte Joachim:
»Ich mache dir einen Vorschlag. Heute ist Freitag, – morgen nach Tische habe ich Monatsuntersuchung. Es ist keine Generaluntersuchung, aber Behrens klopft mich ein bißchen ab und läßt Krokowski ein paar Notizen machen. Da könntest du mitkommen und bitten, dich auch bei der Gelegenheit rasch zu behorchen. Es ist ja lächerlich, – wenn du zu Hause wärst, du ließest Heidekind kommen. Und hier, wo zwei Spezialisten im Hause sind, läufst du herum und weißt nicht, woran du bist, und wie tief es sitzt bei dir, und ob du nicht besser tätest, dich hinzulegen.«
»Schön«, sagte Hans Castorp. »Wie du meinst. Natürlich, so {265} kann ich es machen. Und es ist ja auch interessant für mich, mal einer Untersuchung beizuwohnen.«
So kamen sie überein; und als sie hinauf vor das Sanatorium gelangten, wollte es der Zufall, daß sie mit Hofrat Behrens persönlich zusammentrafen und günstige Gelegenheit fanden, stehenden Fußes ihr Anliegen vorzubringen.
Behrens kam aus dem Vorbau, lang und hochnackig, einen steifen Hut auf dem Hinterkopf und eine Zigarre im Munde, blaubackig und quelläugig, so recht im Zuge der Tätigkeit, im Begriffe, seiner Privatpraxis nachzugehen, Besuche im Ort zu machen, nachdem er soeben im Operationssaal am Werke gewesen, wie er erklärte.
»Mahlzeit, die Herren!« sagte er. »Immer auf der Walze? War wohl fein in der großen Welt? Ich komme gerade von einem ungleichen Zweikampf auf Messer und Knochensäge, – große Sache, wissen Sie, Rippenresektion. Früher blieben fünfzig Prozent dabei auf dem Tisch des Hauses. Jetzt haben wirs besser raus, aber öfters muß man doch mortis causa vorzeitig einpakken. Na, der von heute konnte ja Spaß verstehen, blieb für den Augenblick ganz stramm bei der Stange … Doll, so ein Menschenthorax, der keiner mehr ist. Weichteil, wissen Sie, unkleidsam, leichte Trübung der Idee, sozusagen. Na, und Sie? Was macht die werte Befindität? Ist wohl ein fidelerer Lebenswandel zu zweien, was, Ziemßen, alter Schlauberger? Warum weinen Sie denn, Sie Vergnügungsreisender?« wandte er sich auf einmal an Hans Castorp. »Öffentliches Weinen ist hier nicht erlaubt. Hausordnungsverbot. Da könnte jeder kommen.«
»Das ist mein Schnupfen, Herr Hofrat«, antwortete Hans Castorp. »Ich weiß nicht, wie es möglich war, aber ich habe mir einen enormen Katarrh geholt. Husten habe ich auch, und ordentlich auf der Brust liegt es mir.«
»So?« sagte Behrens. »Dann sollten Sie mal einen verständigen Arzt zu Rate ziehen.«
{266} Die beiden lachten, und Joachim antwortete, indem er die Absätze zusammenzog:
»Wir sind im Begriffe, Herr Hofrat. Ich habe ja morgen Untersuchung, und da wollten wir fragen, ob Sie die Güte hätten, auch meinen Vetter gleich einmal dranzunehmen. Es handelt sich darum, ob er Dienstag wird reisen können …«
»M. w.!« sagte Behrens. »M. w. m. F.! Machen wir mit Vergnügen! Hätten wir längst mal machen sollen. Wenn man schon hier ist, soll man das immer mitnehmen. Aber man mag sich ja natürlich nicht aufdrängen. Also morgen um zwei, gleich wenn Sie von der Krippe kommen!«
»Denn ich habe nämlich auch etwas Fieber«, merkte Hans Castorp noch an.
»Was Sie sagen!« rief Behrens. »Sie wollen mir wohl Neuigkeiten erzählen? Glauben Sie, ich habe keine Augen im Kopf?« Und er deutete mit dem gewaltigen Zeigefinger auf seine beiden blutunterlaufenen, blau quellenden, tränenden Augäpfel. »Wieviel ist es denn übrigens?«
Hans Castorp nannte bescheiden die Ziffer.
»Vormittags? Hm, nicht übel. Für den Anfang gar nicht so unbegabt. Na, also paarweise angetreten morgen um zwei! Soll mir eine Auszeichnung sein. Gesegnete Nahrungsaufnahme!«
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