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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Und mit krummen Knien und rudernden Händen begann er den abschüssigen Weg hinabzustapfen, indes eine Rauchfahne von seiner Zigarre rückwärts wehte.
    »Das wäre also nach deinem Wunsche verabredet«, sagte Hans Castorp. »Glücklicher konnte es sich ja gar nicht treffen, und nun bin ich gemeldet. Er wird ja weiter auch nicht viel tun können in der Sache, als mir vielleicht einen Lakritzensaft oder Brusttee verschreiben, aber angenehm ist es doch, ein bißchen ärztlichen Zuspruch zu haben, wenn man sich fühlt wie ich. Aber warum er nur immer so unmäßig forsch daherredet!« sagte er. »Anfangs machte es mir Spaß, aber auf die Länge ist es mir {267} unlieb. ›Gesegnete Nahrungsaufnahme‹! Was für ein Kauderwelsch. Man kann sagen: ›Gesegnete Mahlzeit‹! denn ›Mahlzeit‹ ist ein poetisches Wort sozusagen, wie ›tägliches Brot‹, und verträgt sich ganz gut mit ›gesegnet‹. Aber ›Nahrungsaufnahme‹ ist ja die reine Physiologie, und dazu Segen zu wünschen, das ist doch ein höhnisches Gerede. Ich sehe es auch nicht gern, wenn er raucht, es hat etwas Beängstigendes für mich, weil ich weiß, daß es ihm nicht bekommt und ihn melancholisch macht. Settembrini sagte von ihm, seine Lustigkeit sei gezwungen, und Settembrini ist ein Kritiker, ein Mann des Urteils, das muß man ihm lassen. Ich sollte vielleicht auch mehr urteilen und nicht alles nehmen, wie es ist, er hat ganz recht. Aber manchmal fängt man mit Urteil und Tadel und gerechtem Ärgernis an, und dann kommt ganz anderes dazwischen, was mit Urteilen gar nichts zu tun hat, und dann ist es aus mit der Sittenstrenge, und die Republik und der schöne Stil kommen einem auch nur noch abgeschmackt vor …«
    Er murmelte Undeutliches, schien selbst nicht ganz klar über das, was er meinte. Auch sah ihn sein Vetter denn nur von der Seite an und sagte »Auf Wiedersehn«, worauf ein jeder auf sein Zimmer und in seine Balkonloge ging.
    »Wieviel?« fragte Joachim nach einer Weile gedämpft, obgleich er nicht gesehen, daß Hans Castorp sein Thermometer wieder zu Rate gezogen hatte … Und Hans Castorp antwortete gleichgültigen Tones:
    »Nichts Neues.«
    Wirklich hatte er gleich bei seinem Eintritt seinen zierlichen Erwerb von heute morgen vom Waschtisch genommen, hatte die 37,6, die nun ihre Rolle ausgespielt hatten, durch senkrechte Stöße zerstört und sich ganz wie ein Alter, die gläserne Zigarre im Munde, in die Liegekur verfügt. Aber allzu hochfliegenden Erwartungen entgegen und obgleich er das Instrument volle acht Minuten unter der Zunge behalten, hatte {268} Merkurius sich nicht weiter ausgedehnt, als wieder nur bis 37,6, – was ja übrigens Fieber war, wenn auch kein höheres, als schon am früheren Vormittage vorhanden gewesen. Nach Tische stieg das schimmernde Säulchen auf 37,7, verharrte abends, als der Patient nach den Erregungen und Neuigkeiten des Tages sehr müde war, auf 37,5, und zeigte in der nächsten Morgenfrühe gar nur auf 37, um gegen Mittag die gestrige Höhe wieder zu erreichen. Unter diesen Ergebnissen kam die Hauptmahlzeit des folgenden Tages und mit ihrer Beendigung die Stunde des Rendezvous heran.
    Hans Castorp erinnerte sich später, daß Madame Chauchat während dieser Mahlzeit einen goldgelben Sweater mit großen Knöpfen und bordierten Taschen getragen hatte, der neu, jedenfalls neu für Hans Castorp gewesen war, und worin sie bei ihrem wie immer verspäteten Eintritt, in der Art, die Hans Castorp so wohl an ihr kannte, einen Augenblick Front gegen den Saal gemacht hatte. Dann war sie, wie täglich fünfmal, zu ihrem Tische geglitten, hatte sich mit weichen Bewegungen niedergelassen und plaudernd zu essen begonnen: Hans Castorp hatte, wie jeden Tag, aber doch mit besonderer Aufmerksamkeit, ihren Kopf sich beim Sprechen bewegen sehen und aufs neue die Rundung ihres Nackens, die schlaffe Haltung ihres Rückens bemerkt, wenn er hinter dem Settembrinis vorbei, der am Ende des schräg zwischenstehenden Tisches saß, zum Guten Russentisch hinübergeblickt hatte. Frau Chauchat ihrerseits hatte sich während des Mittagessens kein einziges Mal nach dem Saale umgeblickt. Als aber der Nachtisch eingenommen gewesen war und die große Ketten- und Pendeluhr an der rechten Schmalseite des Saals, dort, wo der Schlechte Russentisch stand, zwei geschlagen hatte, da war es zu Hans Castorps rätselhafter Erschütterung dennoch geschehen: während die Uhr zwei schlug – eins und zwei –, hatte die anmutige Kranke langsam den

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