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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Kopf und ein wenig auch den Oberkörper {269} gewandt und über die Schulter deutlich und unverhohlen zu Hans Castorps Tische – und nicht nur im allgemeinen zu seinem Tische, nein, unmißverständlich und streng persönlich zu
ihm
herübergeblickt, ein Lächeln um die geschlossenen Lippen und in ihren schmalgeschnittenen Pribislav-Augen, als wollte sie sagen: »Nun? Es ist Zeit. Wirst du gehen?« (denn wenn nur die Augen sprechen, geht ja die Rede per Du, auch wenn der Mund noch nicht einmal »Sie« gesagt hat) – und das war ein Zwischenfall gewesen, der Hans Castorp in tiefster Seele verwirrt und entsetzt hatte, – kaum hatte er seinen Sinnen getraut und entgeistert zuerst in Frau Chauchats Angesicht und dann, die Augen hebend, über ihre Stirn und ihr Haar hin ins Leere geblickt. Wußte sie denn, daß er sich auf zwei Uhr zur Untersuchung hatte bestellen lassen? Genau so hatte es ausgesehen. Und doch war es fast ebenso unwahrscheinlich, wie daß sie hätte wissen sollen, daß er soeben noch, in der jüngstvergangenen Minute, sich gefragt hatte, ob er nicht dem Hofrat durch Joachim sagen lassen sollte, seine Erkältung habe sich schon gebessert und er betrachte die Untersuchung als überflüssig: ein Gedanke, dessen Vorzüge unter jenem fragenden Lächeln freilich dahingewelkt waren und sich in lauter abstoßende Langweiligkeit verwandelt hatten. In der nächsten Sekunde hatte denn Joachim auch schon seine gerollte Serviette auf den Tisch gelegt, hatte ihm mit erhobenen Brauen zugewinkt, sich gegen die Umsitzenden verneigt und den Tisch verlassen, – worauf Hans Castorp innerlich taumelnd, wenn auch äußerlich festen Schrittes, und mit dem Gefühl, daß jenes Blicken und Lächeln immer noch auf ihm läge, dem Vetter zum Saal hinaus folgte.
    Sie hatten seit gestern vormittag nicht mehr über ihr heutiges Vorhaben gesprochen, und auch jetzt gingen sie in schweigendem Einverständnis. Joachim beeilte sich: es war schon über die vereinbarte Stunde, und Hofrat Behrens be {270} stand auf Pünktlichkeit. Es ging vom Speisesaal den ebenerdigen Korridor entlang, an der »Verwaltung« vorbei und die reinliche, mit gebohntem Linoleum belegte Treppe zum Kellergeschoß »hinab«. Joachim klopfte an die Tür, die sich, der Treppe gleich gegenüber, durch ein Porzellanschild als Eingang zum Ordinationszimmer zu erkennen gab.
    »
Her
ein!« rief Behrens, indem er die erste Silbe stark betonte. Er stand inmitten des Raumes, im Kittel, in der Rechten das schwarze Hörrohr, mit dem er sich gegen den Schenkel klopfte.
    »Tempo, Tempo«, sagte er und richtete seine quellenden Augen auf die Wanduhr. »Un poco più presto, Signori! Wir sind nicht ganz ausschließlich für Eure Hochwohlgeboren vorhanden.«
    Am doppelten Schreibtisch vorm Fenster saß Dr. Krokowski, bleich gegen sein schwarzes Lüsterhemd, die Ellenbogen auf der Platte, in der einen Hand die Feder, die andere im Bart, vor sich Papiere, wahrscheinlich den Krankenakt, und blickte den Eintretenden mit dem stumpfen Ausdruck einer Persönlichkeit, die nur assistierenderweise anwesend ist, entgegen.
    »Na, her mit der Konduite!« antwortete der Hofrat auf Joachims Entschuldigungen und nahm ihm die Fieberkurve aus der Hand, um sie durchzusehen, während der Patient sich beeilte, seinen Oberkörper freizumachen und die abgelegten Kleidungsstücke an den neben der Tür stehenden Garderobeständer zu hängen. Um Hans Castorp kümmerte man sich nicht. Er stand eine Weile zuschauend und ließ sich später auf einem altmodischen kleinen Fauteuil mit Troddeln an den Armlehnen zur Seite eines Tischchens mit Wasserkaraffe nieder. Bücherschränke mit breitrückigen medizinischen Werken und Aktenfaszikeln standen an den Wänden. An Möbeln war sonst nur noch eine mit weißem Wachstuch überzogene, höher und niedriger zu kurbelnde Chaiselongue vorhanden, über deren Kopfpolster eine Papierserviette gebreitet war.
    {271} »Komma 7, Komma 9, Komma 8«, sagte Behrens, die Wochenkarten durchblätternd, in die Joachim die Ergebnisse seiner täglich fünfmaligen Messungen treulich eingetragen. »Immer noch ein bißchen illuminiert, lieber Ziemßen, können nicht gerade behaupten, daß Sie seit neulich solider geworden sind.« (»Neulich«, das war vor vier Wochen gewesen.) »Nicht entgiftet, nicht entgiftet«, sagte er. »Na, das geht natürlich nicht so von heute auf morgen, hexen können wir auch nicht.«
    Joachim nickte und zuckte mit seinen bloßen Schultern, obgleich er hätte

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