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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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doch, nachdrücklich einzugreifen und beizeiten ein für allemal vorzubauen. Unter diesem Gesichtspunkt, meinte er, sei es ja ein Glück und eine günstige Fügung, daß er zufällig jetzt heraufgekommen und veranlaßt worden sei, sich untersuchen zu lassen; denn sonst wäre er wohl noch lange über seinen Zustand im unklaren geblieben und später vielleicht auf viel empfindlichere Art darüber belehrt worden. Was die voraussichtliche Dauer der Kur betreffe, so möge man sich nicht wundern, daß er sich wahrscheinlich den Winter werde um die Ohren schlagen müssen und kaum früher als Joachim in die Ebene werde zurückkehren können. Die Zeitbegriffe seien hier andere, als die sonst wohl für Badereisen und Kuraufenthalte gültigen; der Monat sei sozusagen die kleinste Zeiteinheit, und einzeln spiele er gar keine Rolle …
    Es war kühl, er schrieb im Paletot, in eine Decke gehüllt, mit geröteten Händen. Manchmal blickte er auf von seinem Papier, das sich mit vernünftigen und überzeugenden Sätzen bedeckte, und blickte in die vertraute Landschaft, die er kaum noch sah, dieses gestreckte Tal mit dem heute glasig-bleichen Gipfelgeschiebe am Ausgang, dem hell besiedelten Grunde, der manchmal sonnig aufglänzte, und den teils waldrauhen, teils wiesigen Lehnen, von denen Kuhgeläut kam. Er schrieb mit wachsender Leichtigkeit und verstand nicht mehr, wie er sich vor dem Brief hatte fürchten können. Im Schreiben begriff er selbst, daß nichts einleuchtender sein konnte, als seine Darlegungen, und daß sie zu Hause selbstverständlich das vollkommenste Einverständnis finden würden. Ein junger Mann seiner Klasse und in seinen Verhältnissen tat etwas für sich, wenn es sich als ratsam erwies, er machte Gebrauch von den eigens für seinesgleichen bereitgestellten Bequemlichkeiten. So gehörte es sich. Wäre er heimgereist, – man hätte ihn auf {342} seinen Bericht hin wieder heraufgeschickt. Er bat, ihm zukommen zu lassen, was er brauchte. Auch um regelmäßige Anweisung der nötigen Geldmittel bat er zum Schluß; mit 800 Mark monatlich sei alles zu decken.
    Er unterschrieb. Das war getan. Dieser dritte Brief nach Hause war ausgiebig, er hielt vor, – nicht nach den Zeitbegriffen von unten, sondern nach den hier oben herrschenden; er befestigte Hans Castorps
Freiheit
. Dies war das Wort, das er anwandte, nicht ausdrücklich, nicht, indem er auch nur innerlich seine Silben gebildet hätte, aber er empfand seinen weitläufigsten Sinn, wie er es während seines hiesigen Aufenthaltes zu tun gelernt hatte, – einen Sinn, der mit demjenigen, den Settembrini diesem Worte beilegte, nur wenig zu schaffen hatte, – und eine ihm schon bekannte Welle des Schreckens und der Erregung ging über ihn hin, die seine Brust beim Aufseufzen erzittern ließ.
    Er hatte den Kopf voller Blut vom Schreiben, seine Backen brannten. Er nahm Merkurius vom Lampentischchen und maß sich, als gelte es, eine Gelegenheit zu benutzen. Merkurius stieg auf 37,8.
    »Seht ihr?« dachte Hans Castorp. Und er fügte das Postskriptum hinzu: »Der Brief hat mich doch angestrengt. Ich messe 37,8. Ich sehe, daß ich mich vorläufig sehr ruhig verhalten muß. Ihr müßt entschuldigen, wenn ich selten schreibe.« Dann lag er und hob seine Hand gegen den Himmel, das Innere nach außen, so, wie er sie hinter den Leuchtschirm gehalten. Aber das Himmelslicht ließ ihre Lebensform unberührt, sogar noch dunkler und undurchsichtiger wurde ihr Stoff vor seiner Helle, und nur ihre äußersten Umrisse zeigten sich rötlich durchleuchtet. Es war die Lebenshand, die er zu sehen, zu säubern, zu benutzen gewohnt war – nicht jenes fremde Gerüst, das er im Schirme erblickt –, die analytische Grube, die er damals offen gesehen, hatte sich wieder geschlossen.

{343} Launen des Merkur
    Der Oktober brach an, wie neue Monate anzubrechen pflegen, – es ist an und für sich ein vollkommen bescheidenes und geräuschloses Anbrechen, ohne Zeichen und Feuermale, ein stilles Sicheinschleichen also eigentlich, das der Aufmerksamkeit, wenn sie nicht strenge Ordnung hält, leicht entgeht. Die Zeit hat in Wirklichkeit keine Einschnitte, es gibt kein Gewitter oder Drommetengetön beim Beginn eines neuen Monats oder Jahres, und selbst bei dem eines neuen Säkulums sind es nur wir Menschen, die schießen und läuten.
    In Hans Castorps Fall glich der erste Oktobertag auf ein Haar dem letzten Septembertage; er war ebenso kalt und unfreundlich wie dieser, und die nächstfolgenden

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