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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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seinen Lebensberuf einschlagende Bücher, Ingenieur-Wissenschaftliches, Schiffsbautechnisches, {415} von zuhause heraufkommen lassen. Diese Bände lagen aber vernachlässigt zugunsten anderer, einer ganz verschiedenen Sparte und Fakultät angehöriger Lehrwerke, zu deren Materie der junge Hans Castorp Lust gefaßt. Es waren solche der Anatomie, Physiologie und Lebenskunde, abgefaßt in verschiedenen Sprachen, auf deutsch, französisch und englisch, und sie wurden ihm eines Tages vom Buchhändler des Ortes heraufgeschickt, offenbar, weil er sie bestellt hatte, und zwar auf eigene Hand, stillschweigend, gelegentlich eines Spazierganges, den er ohne Joachim (da dieser gerade zur Injektion oder zum Wiegen bestellt gewesen) nach »Platz« hinunter gemacht hatte. Joachim sah die Bücher mit Überraschung in seines Vetters Händen. Sie waren teuer gewesen, wie wissenschaftliche Werke sind; die Preise standen noch an den Innenseiten der Deckel und auf den Umschlägen vermerkt. Er fragte, warum Hans Castorp sie sich nicht, wenn er dergleichen schon lesen wolle, vom Hofrat geliehen habe, der diese Literatur doch sicher in guter Auswahl besitze. Aber Hans Castorp erwiderte, er wolle sie selber besitzen, es sei ein ganz anderes Lesen, wenn das Buch einem gehöre; auch liebe er es, mit dem Bleistift dareinzufahren und anzustreichen. Stundenlang hörte Joachim in seines Vetters Loge das Geräusch, mit dem das Papiermesser die Blätter broschierter Bogen trennt.
    Die Bände waren schwer, unhandlich; Hans Castorp stützte sie im Liegen mit dem unteren Rande gegen die Brust, den Magen. Es drückte, aber er nahm das in Kauf; halboffenen Mundes ließ er seine Augen über die gelehrten Seiten hinuntersteigen, die fast unnötigerweise vom rötlichen Schein des beschirmten Lämpchens erhellt waren, da sie notfalls im starken Mondlicht lesbar gewesen wären, – folgte mit dem Kopf, bis sein Kinn auf der Brust lag, eine Haltung, worin der Lesende, bevor er das Gesicht zur nächsten Seite hob, wohl nachdenkend, schlummernd oder im Halbschlummer nachdenkend {416} etwas verweilte. Er forschte tief, er las, während der Mond über das kristallisch glitzernde Hochgebirgstal seinen gemessenen Weg ging, von der organisierten Materie, den Eigenschaften des Protoplasmas, der zwischen Aufbau und Zersetzung in sonderbarer Seinsschwebe sich erhaltenden empfindlichen Substanz und ihrer Gestaltbildung aus anfänglichen, doch immer gegenwärtigen Grundformen, las mit dringlichem Anteil vom Leben und seinem heilig-unreinen Geheimnis.
    Was war das Leben? Man wußte es nicht. Es war sich seiner bewußt, unzweifelhaft, sobald es Leben war, aber es wußte nicht, was es sei. Bewußtsein als Reizempfindlichkeit, unzweifelhaft, erwachte bis zu einem gewissen Grade schon auf den niedrigsten, ungebildetsten Stufen seines Vorkommens, es war unmöglich, das erste Auftreten bewußter Vorgänge an irgendeinen Punkt seiner allgemeinen oder individuellen Geschichte zu binden, Bewußtsein etwa durch das Vorhandensein eines Nervensystems zu bedingen. Die niedersten Tierformen hatten kein Nervensystem, geschweige daß sie ein Großhirn gehabt hätten, doch wagte es niemand, ihnen die Fähigkeit der Empfindung von Reizen abzusprechen. Auch konnte man das Leben betäuben, dieses selbst, nicht nur besondere Organe der Reizempfänglichkeit, die es etwa ausbildete, nicht nur die Nerven. Man konnte die Reizbarkeit jedes mit Leben begabten Stoffes im Pflanzen- wie im Tierreich vorübergehend aufheben, konnte Eier und Samenfäden mit Chloroform, Chloralhydrat oder Morphium narkotisieren. Bewußtsein seinerselbst war also schlechthin eine Funktion der zum Leben geordneten Materie, und bei höherer Verstärkung wandte die Funktion sich gegen ihren eigenen Träger, ward zum Trachten nach Ergründung und Erklärung des Phänomens, das sie zeitigte, einem hoffnungsvoll-hoffnungslosen Trachten des Lebens nach Selbsterkenntnis, einem Sich-in-sich-Wühlen der Natur, vergeblich am Ende, da Natur in Erkenntnis nicht aufgehen, Leben im Letzten sich nicht belauschen kann.
    {417} Was war das Leben? Niemand wußte es. Niemand kannte den natürlichen Punkt, an dem es entsprang und sich entzündete. Nichts war unvermittelt oder nur schlecht vermittelt im Bereiche des Lebens von jenem Punkte an; aber das Leben selbst erschien unvermittelt. Wenn sich etwas darüber aussagen ließ, so war es dies: es müsse von so hoch entwickelter Bauart sein, daß in der unbelebten Welt auch nicht entfernt

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