Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
seinesgleichen vorkomme. Zwischen der scheinfüßigen Amöbe und dem Wirbeltier war der Abstand geringfügig, unwesentlich, im Vergleiche mit dem zwischen der einfachsten Erscheinung des Lebens und jener Natur, die nicht einmal verdiente, tot genannt zu werden, weil sie unorganisch war. Denn der Tod war nur die logische Verneinung des Lebens; zwischen Leben und unbelebter Natur aber klaffte ein Abgrund, den die Forschung vergebens zu überbrücken strebte. Man mühte sich, ihn mit Theorien zu schließen, die er verschlang, ohne an Tiefe und Breite im geringsten dadurch einzubüßen. Man hatte sich, um ein Bindeglied zu finden, zu dem Widersinn der Annahme strukturloser Lebensmaterie, unorganisierter Organismen herbeigelassen, die in der Eiweißlösung von selbst zusammenschössen, wie der Kristall in der Mutterlauge, – während doch organische Differenziertheit zugleich Vorbedingung und Äußerung alles Lebens blieb, und während kein Lebewesen aufzuweisen war, das nicht einer Elternzeugung sein Dasein verdankt hätte. Das Ende des Jubels, mit dem man den Urschleim aus den äußersten Tiefen des Meeres gefischt hatte, war Beschämung gewesen. Es zeigte sich, daß man Gipsniederschläge für Protoplasma gehalten. Um aber nicht vor einem Wunder haltmachen zu müssen – denn das Leben, das aus denselben Stoffen sich aufbaute und in dieselben Stoffe zerfiel wie die unorganische Natur, wäre, unvermittelt, ein Wunder gewesen –, war man trotzdem genötigt, an Urzeugung, das hieß an die Entstehung des Organischen aus dem Unorganischen, zu glau {418} ben, die übrigens ebenfalls ein Wunder war. So fuhr man fort, Zwischenstufen und Übergänge zu ersinnen, das Dasein von Organismen anzunehmen, die niedriger standen, als alle bekannten, ihrerseits aber noch ursprünglichere Lebensversuche der Natur zu Vorläufern hatten, Probien, die niemand je sehen würde, da sie sich unter aller mikroskopischen Größe hielten, und vor deren gedachter Entstehung die Synthese von Eiweißverbindungen sich vollzogen haben mußte …
    Was war also das Leben? Es war Wärme, das Wärmeprodukt formerhaltender Bestandlosigkeit, ein Fieber der Materie, von welchem der Prozeß unaufhörlicher Zersetzung und Wiederherstellung unhaltbar verwickelt, unhaltbar kunstreich aufgebauter Eiweißmolekel begleitet war. Es war das Sein des eigentlich Nicht-sein-Könnenden, des nur in diesem verschränkten und fiebrigen Prozeß von Zerfall und Erneuerung mit süß-schmerzlich-genauer Not auf dem Punkte des Seins Balancierenden. Es war nicht materiell, und es war nicht Geist. Es war etwas zwischen beidem, ein Phänomen, getragen von Materie, gleich dem Regenbogen auf dem Wasserfall und gleich der Flamme. Aber wiewohl nicht materiell, war es sinnlich bis zur Lust und zum Ekel, die Schamlosigkeit der selbstempfindlich-reizbar gewordenen Materie, die unzüchtige Form des Seins. Es war ein heimlich-fühlsames Sichregen in der keuschen Kälte des Alls, eine wollüstig-verstohlene Unsauberkeit von Nährsaugung und Ausscheidung, ein exkretorischer Atemhauch von Kohlensäure und üblen Stoffen verborgener Herkunft und Beschaffenheit. Es war das durch Überausgleich seiner Unbeständigkeit ermöglichte und in eingeborene Bildungsgesetze gebannte Wuchern, Sichentfalten und Gestaltbilden von etwas Gedunsenem aus Wasser, Eiweiß, Salz und Fetten, welches man Fleisch nannte, und das zur Form, zum hohen Bilde, zur Schönheit wurde, dabei jedoch der Inbegriff der Sinnlichkeit und der Begierde war. Denn diese Form und {419} Schönheit war nicht geistgetragen, wie in den Werken der Dichtung und Musik, auch nicht getragen von einem neutralen und geistverzehrten, den Geist auf eine unschuldige Art versinnlichenden Stoff, wie die Form und Schönheit der Bildwerke. Vielmehr war sie getragen und ausgebildet von der auf unbekannte Art zur Wollust erwachten Substanz, der organischen, verwesend-wesenden Materie selbst, dem riechenden Fleische …
    Dem jungen Hans Castorp, der über dem glitzernden Tal in seiner von Pelz und Wolle gesparten Körperwärme ruhte, zeigte sich in der vom Scheine des toten Gestirnes erhellten Frostnacht das Bild des Lebens. Es schwebte ihm vor, irgendwo im Raume, entrückt und doch sinnennah, der Leib, der Körper, matt weißlich, ausduftend, dampfend, klebrig, die Haut, in aller Unreinigkeit und Makelhaftigkeit ihrer Natur, mit Flekken, Papillen, Gilbungen, Rissen und körnig-schuppigen Gegenden, überzogen von den zarten Strömen und Wirbeln des

Weitere Kostenlose Bücher