Der Zauberberg
rudimentären Lanugoflaums. Es lehnte, abgesondert von der Kälte des Unbelebten, in seiner Dunstsphäre, lässig, das Haupt gekränzt mit etwas Kühlem, Hornigem, Pigmentiertem, das ein Produkt seiner Haut war, die Hände im Nacken verschränkt, und blickte unter gesenkten Lidern hervor, aus Augen, die eine Varietät der Lidhautbildung schief erscheinen ließ, mit halb geöffneten, ein wenig aufgeworfenen Lippen dem Anschauenden entgegen, gestützt auf das eine Bein, so daß der tragende Hüftknochen in seinem Fleische stark hervortrat, während das Knie des schlaffen Beins, leicht abgebogen, bei auf die Zehen gestelltem Fuß sich gegen die Innenseite des belasteten schmiegte. Es stand so, lächelnd gedreht, in seiner Anmut lehnend, die schimmernden Ellbogen vorwärts gespreizt, in der paarigen Symmetrie seines Gliederbaus, seiner Leibesmale. Dem scharf dünstenden Dunkel der Achselhöhlen entsprach in mystischem Dreieck die Nacht des Schoßes, wie den {420} Augen die rot-epithelische Mundöffnung, den roten Blüten der Brust der senkrecht in die Länge gedehnte Nabel entsprach. Unter dem Antriebe eines Zentralorgans und im Rückenmark entspringender motorischer Nerven regten sich Bauch und Brustkorb, die Pleuroperitonealhöhle blähte sich und zog sich zusammen, der Atemhauch, erwärmt und befeuchtet von den Schleimhäuten des Atmungskanals, mit Ausscheidungsstoffen gesättigt, strömte zwischen den Lippen aus, nachdem er in den Luftzellen der Lunge seinen Sauerstoff an das Hämoglobin des Blutes zur inneren Atmung gebunden. Denn Hans Castorp verstand, daß dieser Lebenskörper in dem geheimnisvollen Gleichmaß seines blutgenährten, von Nerven, Venen, Arterien, Haarfiltern durchzweigten, von Lymphe durchsickerten Gliederbaus, mit seinem inneren Gerüst von fettmarkgefüllten Röhrenknochen, von Blatt-, Wirbel- und Wurzelknochen, die aus der ursprünglichen Stützsubstanz, dem Gallertgewebe, mit Hilfe von Kalksalzen und Leim sich befestigt hatten, um ihn zu tragen; mit den Kapseln und schlüpfrig geschmierten Höhlen, Bändern und Knorpeln seiner Gelenke, seinen mehr als zweihundert Muskeln, seinen zentralen, der Ernährung, Atmung, Reizmeldung und Reizentsendung dienenden Organbildungen, seinen Schutzhäuten, serösen Höhlen, absonderungsreichen Drüsen, dem Röhren- und Spaltenwerk seiner verwickelten, durch Leibesöffnungen in die äußere Natur mündenden Innenfläche: daß dieses Ich eine Lebenseinheit von hoher Ordnung war, bei weitem nicht mehr von der Art jener einfachsten Wesen, die mit ihrer ganzen Körperoberfläche atmeten, sich ernährten und sogar dachten, sondern aufgebaut aus Myriaden solcher Kleinorganisationen, die von einer einzigen her ihren Ursprung genommen, sich durch immer wiederkehrende Teilung vervielfältigt, sich zu verschiedenen Dienststellungen und Verbänden geordnet, gesondert, eigens ausgebildet und Formen hervorgetrieben hatten, die Bedingung und Wirkung ihres Wachstums waren.
{421} Der Leib, der ihm vorschwebte, dies Einzelwesen und Lebens-Ich war also eine ungeheuere Vielheit atmender und sich ernährender Individuen, welche, durch organische Einordnung und Sonderzweckgestaltung, des ichhaften Seins, der Freiheit und Lebensunmittelbarkeit in so hohem Grade verlustig gegangen, so sehr zu anatomischen Elementen geworden waren, daß die Verrichtung einiger sich einzig auf Reizempfindlichkeit gegen Licht, Schall, Berührung, Wärme beschränkte, andere es nur noch verstanden, ihre Form durch Zusammenziehung zu verändern oder Verdauungssekrete zu erzeugen, wieder andere zum Schutz, zur Stütze, zur Beförderung der Säfte oder zur Fortpflanzung einseitig ausgebildet und tüchtig waren. Es gab Lockerungen dieser zum hohen Ich vereinigten organischen Pluralität, Fälle, in denen die Vielzahl der Unterindividuen nur auf leichte und zweifelhafte Art zur höheren Lebenseinheit zusammengefaßt war. Der Studierende grübelte über der Erscheinung der Zellkolonien, er vernahm von Halborganismen, Algen, deren einzelne Zellen, nur in einen Mantel von Gallerte eingehüllt, oft weit voneinander lagen, mehrzellige Bildungen immerhin, die aber, zur Rede gestellt, nicht zu sagen gewußt hätten, ob sie als Siedelung einzelliger Individuen oder als Einheitswesen gewürdigt werden wollten und in ihrer Selbstaussage zwischen dem Ich und dem Wir wunderlich geschwankt haben würden. Hier wies die Natur einen Mittelstand auf zwischen der hochsozialen Vereinigung zahlloser Elementarindividuen zu
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