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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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an denen es Frau Stöhr, wie sie versicherte, nicht fehlen ließ, Trotz bieten zu wollen schien. Mehrfach verzichtete Frau Stöhr und erklärte, der Iltis die schuldige Summe zu schenken. »Ich zahle also für mich und für sie,« sagte sie; »gut, nicht mein ist die Schande!« Endlich aber war sie auf einen Ausweg verfallen, von dem sie der Tischgesellschaft zu allgemeiner Heiterkeit Mitteilung machte: sie hatte sich die zehn Franken auf der »Verwaltung« auszahlen und der Iltis in Rechnung stellen lassen, – womit die träge Schuldnerin denn überlistet und wenigstens diese Sache ins gleiche gebracht war.
    Es hatte zu schneien aufgehört. Teilweise öffnete der Himmel sich; graublaue Wolken, die sich geschieden, ließen Sonnenblicke einfallen, die die Landschaft bläulich färbten. Dann wurde es völlig heiter. Klarer Frost herrschte, reine, gesicherte Winterspracht um Mitte November, und das Panorama hinter den Bogen der Balkonloge, die bepuderten Wälder, die weichgefüllten Schlüfte, das weiße, sonnige Tal unter dem blaustrahlenden Himmel war herrlich. Abends gar, wenn der fast gerundete Mond erschien, verzauberte sich die Welt und ward {411} wunderbar. Kristallisches Geflimmer, diamantnes Glitzern herrschte weit und breit. Sehr weiß und schwarz standen die Wälder. Die dem Monde fernen Himmelsgegenden lagen dunkel, mit Sternen bestickt. Scharfe, genaue und intensive Schatten, die wirklicher und bedeutender schienen als die Dinge selbst, fielen von den Häusern, den Bäumen, den Telegraphenstangen auf die blitzende Fläche. Es hatte sieben oder acht Grad Frost ein paar Stunden nach Sonnenuntergang. In eisige Reinheit schien die Welt gebannt, ihre natürliche Unsauberkeit zugedeckt und erstarrt im Traum eines phantastischen Todeszaubers.
    Hans Castorp hielt sich bis spät in die Nacht in seiner Balkonloge über dem verwunschenen Wintertal, weit länger als Joachim, der sich um zehn, oder doch nicht viel später, zurückzog. Sein vorzüglicher Liegestuhl mit dem dreiteiligen Polster und der Nackenrolle war nahe an das Holzgeländer gerückt, auf dem ein Kissen von Schnee sich hinzog; auf dem weißen Tischchen daneben brannte die elektrische Lampe und stand neben einem Stapel Bücher ein Glas fetter Milch, die Abendmilch, die allen Bewohnern des »Berghofs« noch um neun Uhr aufs Zimmer gebracht wurde, und in die Hans Castorp sich einen Schuß Kognak goß, um sie sich mundgerechter zu machen. Schon hatte er alle verfügbaren Schutzmittel gegen die Kälte aufgeboten, den ganzen Apparat. Bis über die Brust stak er in dem knöpfbaren Pelzsack, den er in einem einschlägigen Geschäft des Kurorts rechtzeitig erstanden, und hatte um diesen die beiden Kamelhaardecken nach dem Ritus geschlagen. Dazu trug er über dem Winteranzug seine kurze Pelzjacke, auf dem Kopf eine wollene Mütze, Filzstiefel an den Füßen und an den Händen dickgefütterte Handschuhe, die aber freilich das Erstarren der Finger nicht hindern konnten.
    Was ihn so lange draußen hielt, bis gegen und über Mitternacht (wenn das schlechte Russenpaar die Nachbarloge längst {412} verlassen hatte), war wohl auch der Zauber der Winternacht, zumal sich bis elf Uhr Musik darein wob, die von näher und ferner her aus dem Tale heraufdrang, – hauptsächlich aber Trägheit und Angeregtheit, beides zugleich und im Verein: nämlich die Trägheit und bewegungsfeindliche Müdigkeit seines Körpers und die beschäftigte Angeregtheit seines Geistes, der über gewissen neuen und fesselnden Studien, auf die der junge Mann sich eingelassen, nicht zur Ruhe kommen wollte. Die Witterung setzte ihm zu, der Frost wirkte anstrengend und konsumierend auf seinen Organismus. Er aß viel, nutzte die gewaltigen Berghofmahlzeiten, bei denen auf garniertes Roastbeef gebratene Gänse folgten, mit jenem übergewöhnlichen Appetit, der hier durchaus und im Winter, wie sich zeigte, noch mehr als im Sommer, an der Tagesordnung war. Gleichzeitig beherrschte ihn Schlafsucht, so daß er bei Tage wie an den mondlichten Abenden über den Büchern, die er wälzte, und die wir kennzeichnen werden, oftmals einschlief, um nach einigen Minuten der Bewußtlosigkeit seine Forschungen fortzusetzen. Lebhaftes Sprechen – und er neigte hier mehr als ehemals im Tiefland zu schnellem, rückhaltlosem und selbst gewagtem Plaudern – lebhaftes Sprechen also mit Joachim während ihrer Dienstgänge im Schnee erschöpfte ihn sehr; Schwindel und Zittern, ein Gefühl von Betäubung und Trunkenheit

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