Der Zauberberg
kam ihn an, und sein Kopf stand in Hitze. Seine Kurve war angestiegen seit Einfall des Winters, und Hofrat Behrens hatte etwas von Injektionen fallen lassen, die er bei hartnäckiger Übertemperatur anzuwenden pflegte, und denen zwei Drittel der Gäste, auch Joachim, sich regelmäßig zu unterziehen hatten. Mit der gesteigerten Wärmeerzeugung seines Körpers aber, dachte Hans Castorp, hatte gewiß die geistige Erregung und Rührigkeit zu tun, die ihn an ihrem Teil bis tief in die glitzernde Frostnacht auf seinem Liegestuhl festhielt. Die Lektüre, die ihn fesselte, legte ihm solche Erklärungen nah.
{413} Es wurde nicht wenig gelesen auf den Liegehallen und Privatbalkons des Internationalen Sanatoriums »Berghof«, – namentlich von Anfängern und Kurzfristigen; denn die Vielmonatigen oder gar Mehrjährigen hatten längst gelernt, auch ohne Zerstreuung und Beschäftigung des Kopfes die Zeit zu vernichten und kraft inneren Virtuosentums hinter sich zu bringen, ja, sie erklärten es für das Ungeschick von Stümpern, sich dabei an ein Buch zu klammern. Allenfalls möge man eines auf dem Schoß oder dem Beitischchen liegen haben, das genüge vollauf, sich versorgt zu fühlen. Die Anstaltsbücherei, polyglott und an Bilderwerken reich, der erweiterte Unterhaltungsbestand eines zahnärztlichen Wartezimmers, bot sich der freien Benutzung an. Romanbände aus der Leihbibliothek von »Platz« wurden ausgetauscht. Dann und wann trat ein Buch, eine Schrift auf, um die man sich riß, nach der auch die nicht mehr Lesenden mit nur erheucheltem Phlegma die Hände streckten. Zu dem Zeitpunkt, wo wir halten, ging ein schlecht gedrucktes Heft von Hand zu Hand, das Herr Albin eingeführt hatte und das »Die Kunst, zu verführen« betitelt war. Es war sehr wörtlich aus dem Französischen übersetzt, ja selbst die Syntax dieser Sprache war in der Übertragung beibehalten, wodurch der Vortrag viel Haltung und prickelnde Eleganz gewann, und entwickelte die Philosophie der Leibesliebe und Wollust im Geist eines weltmännisch-lebensfreundlichen Heidentums. Frau Stöhr hatte es bald gelesen und fand es »berauschend«. Frau Magnus, dieselbe, die Eiweiß verlor, pflichtete ihr rückhaltlos bei. Ihr Gatte, der Bierbrauer, wollte für seine Person bei der Lektüre manches profitiert haben, bedauerte aber, daß Frau Magnus die Schrift in sich aufgenommen, denn dergleichen »verhätschele« die Frauen und bringe ihnen unbescheidene Begriffe bei. Diese Äußerung verstärkte die Begierde nach dem Buchwerk nicht wenig. Zwischen zwei im Oktober zugereisten Damen der unteren Liegehalle, Frau Redisch, der Gattin eines {414} polnischen Industriellen, und einer gewissen Witwe Hessenfeld aus Berlin, von denen jede behauptete, sie habe sich vor der anderen zur Lektüre gemeldet, kam es nach dem Diner zu einer mehr als unerquicklichen, eigentlich gewalttätigen Szene, der Hans Castorp in seiner Balkonloge zuzuhören hatte, und die mit einem hysterischen Schreikrampf einer der beiden Damen – es konnte die Redisch, konnte aber auch die Hessenfeld sein – und der Verbringung der Wuterkrankten auf ihr Zimmer endigte. Die Jugend hatte sich des Traktates früher bemächtigt als die reiferen Jahrgänge. Sie studierte es teilweise gemeinsam nach dem Souper auf verschiedenen Zimmern. Hans Castorp sah, wie der Junge mit dem Fingernagel es im Speisesaal einer jungen, frisch eingetroffenen Leichtkranken, Fränzchen Oberdank, einhändigte, einem blond gescheitelten Haustöchterchen, das erst kürzlich von seiner Mutter heraufgebracht worden war.
Vielleicht gab es Ausnahmen, vielleicht solche, die die Stunden des Liegedienstes mit irgendeiner ernsten geistigen Beschäftigung, einem irgendwie förderlichen Studium erfüllten, sei es auch nur, um dadurch eine Verbindung mit dem Leben der Ebene zu bewahren oder der Zeit ein wenig Schwere und Tiefgang, damit sie nicht reine Zeit und sonst überhaupt nichts sei, zu verleihen. Vielleicht war außer Herrn Settembrini, mit seinen Bestrebungen, die Leiden auszumerzen, und dem ehrliebenden Joachim mit seinen russischen Übungsbüchern, noch dieser und jener, der es so hielt, wenn nicht unter den Insassen des Speisesaals, was wirklich unwahrscheinlich war, so möglicherweise gerade unter den Bettlägrigen und Moribunden – Hans Castorp war geneigt, es zu glauben. Ihn selbst angehend, so hatte er sich seinerzeit, da »Ocean steamships« ihm nichts mehr zu sagen hatte, zusammen mit seinem Winterbedarf, auch einige in
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