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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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schien erlaubt oder notwendig, aus den Entwicklungsstadien, die er durchlief, auf den wenig humanistischen Anblick zu schließen, den der vollendete Mensch in Urzeiten geboten hatte. Seine Haut war mit zuckenden Muskeln zur Abwehr der Insekten ausgestattet und dicht behaart, die Ausdehnung seiner Riechschleimhaut gewaltig, seine abstehenden, beweglichen, am Mienenspiel lebhaft beteiligten Ohren zum Schallfang geschickter gewesen als gegenwärtig. Damals hatten seine Augen, von einem dritten, nickenden Lide geschützt, seitlich am Kopfe gestanden, mit Ausnahme des dritten, dessen Rudiment die Zirbeldrüse war, und das die oberen Lüfte zu überwachen vermocht hatte. Dieser Mensch hatte außerdem ein sehr langes Darmrohr, viele Mahlzähne und Schallsäcke am Kehlkopf zum Brüllen besessen und auch die männlichen Geschlechtsdrüsen im Innern des Bauchraumes getragen.
    Die Anatomie enthäutete und präparierte unserem Forscher die Gliedmaßen des Menschenleibes, sie zeigte ihm ihre oberflächlichen und ihre tiefen, hinteren Muskeln, Sehnen und Bänder: diejenigen der Schenkel, des Fußes und namentlich der Arme, des Ober- und Unterarms, lehrte ihn die lateinischen Namen, mit denen die Medizin, diese Abschattung des humanistischen Geistes, sie nobler- und galanterweise benannt und unterschieden hatte, und ließ ihn vordringen bis zum Skelett, dessen Ausbildung ihm neue Gesichtspunkte lieferte, unter denen die Einheit alles Menschlichen, die Beschlossenheit aller Disziplinen darin sich betrachten ließ. Denn hier fand er sich aufs merkwürdigste an seinen eigentlichen – oder muß man sagen: früheren – Beruf, die wissenschaftliche Charge erinnert, als deren Zugehöriger er bei seiner Ankunft hier oben sich den Begegnenden (Herrn Dr. Krokowski, Herrn Settem {425} brini) vorgestellt hatte. Um irgendetwas zu lernen – es war recht gleichgültig gewesen, was –, hatte er auf Hochschulen dies und das von Statik, von biegungsfähigen Stützen, von Belastung und von der Konstruktion als einer vorteilhaften Bewirtschaftung des mechanischen Materials gelernt. Es wäre wohl kindlich gewesen, zu meinen, daß die Ingenieurwissenschaften, die Regeln der Mechanik auf die organische Natur Anwendung gefunden hätten, aber ebensowenig konnte man sagen, daß sie davon abgeleitet worden seien. Sie fanden sich einfach darin wiederholt und bekräftigt. Das Prinzip des Hohlzylinders herrschte im Bau der langen Röhrenknochen dergestalt, daß mit dem genauen Minimum von solider Substanz den statischen Ansprüchen Genüge geschah. Ein Körper, hatte Hans Castorp gelernt, der den Anforderungen gemäß, die durch Zug und Druck an ihn gestellt werden sollen, nur aus Stäben und Bändern eines mechanisch brauchbaren Materials zusammengesetzt wird, kann dieselbe Belastung ertragen wie ein massiver Körper des gleichen Stoffes. So auch ließ bei der Entstehung der Röhrenknochen sich verfolgen, wie, schritthaltend mit der Bildung kompakter Substanz an ihrer Oberfläche, die inneren Teile, da sie mechanisch unnötig wurden, sich in Fettgewebe, das gelbe Mark, verwandelten. Der Oberschenkelknochen war ein Kran, bei dessen Konstruktion die organische Natur durch die Richtung, die sie den Knochenbälkchen gegeben, auf ein Haar die gleichen Zug- und Druckkurven ausgeführt hatte, die Hans Castorp bei der graphischen Darstellung eines so in Anspruch genommenen Gerätes korrekterweise einzutragen gehabt hätte. Er sah es mit Wohlgefallen, denn er fand sich zum Femur, oder zur organischen Natur überhaupt, nun schon in dreierlei Verhältnis stehen: dem lyrischen, dem medizinischen und dem technischen, – so groß war seine Angeregtheit; und diese drei Verhältnisse, fand er, waren eines im Menschlichen, sie waren Abwandlungen {426} eines und desselben dringlichen Anliegens, humanistische Fakultäten …
    Bei alldem blieben die Leistungen des Protoplasmas ganz unerklärlich, dem Leben schien es verwehrt, sich selbst zu begreifen. Die Mehrzahl der biochemischen Vorgänge war nicht nur unbekannt, sondern es lag in ihrer Natur, sich der Einsicht zu entziehen. Man wußte von dem Aufbau, der Zusammensetzung der Lebenseinheit, die man die »Zelle« nannte, fast nichts. Was half es, die Bestandteile des toten Muskels aufzuweisen? Der lebende ließ sich chemisch nicht untersuchen; schon jene Veränderungen, die die Totenstarre hervorrief, genügten, um alles Experimentieren nichtssagend zu machen. Niemand verstand den Stoffwechsel, niemand das Wesen der

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