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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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fühlen, kraft der Freiheit, welche die Krankheit ihr gab? Sprechen, schreiben, – eine hervorragend humanistisch-republikanische Angelegenheit in der Tat, Angelegenheit des Herrn Brunetto Latini, der das Buch von den Tugenden und Lastern schrieb und den Florentinern Schliff gab, sie das Sprechen lehrte und die Kunst, ihre Republik nach den Regeln der Politik zu lenken …
    Damit fielen Hans Castorps Gedanken denn auf Lodovico Settembrini, und er errötete, wie er damals errötet war, als der Schriftsteller unvermutet sein Krankenzimmer betreten hatte, unter plötzlicher Erleuchtung desselben. An Herrn Settembrini hätte Hans Castorp ja ebenfalls seine Fragen, die übersinnlichen Rätsel betreffend, richten können, wenn auch nur im Sinne der Herausforderung und der Quengelei, nicht in der Erwartung, von dem Humanisten, dessen Trachten den irdischen Lebensinteressen galt, Antwort darauf zu erhalten. Aber seit der Faschingsgeselligkeit und Settembrinis bewegtem Abgang aus dem Klaviersalon waltete zwischen Hans Castorp und dem Italiener eine Entfremdung, die auf das schlechte Gewis {536} sen des einen, sowie auf die tiefe pädagogische Verstimmung des andern zurückzuführen war und dahin wirkte, daß sie einander mieden und wochenlang kein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde. War Hans Castorp noch ein »Sorgenkind des Lebens« in Herrn Settembrinis Augen? Nein, er war wohl ein Aufgegebener in den Augen dessen, der die Moral in der Vernunft und der Tugend suchte … Und Hans Castorp verstockte sich gegen Herrn Settembrini, er zog die Brauen zusammen und warf die Lippen auf, wenn sie einander begegneten, während Herrn Settembrinis schwarz glänzender Blick mit schweigendem Vorwurf auf ihm ruhte. Dennoch löste diese Verstocktheit sich sofort, als der Literat nach Wochen, wie gesagt, zum erstenmal wieder das Wort an ihn richtete, wenn auch nur im Vorüberstreifen und in Form mythologischer Anspielungen, zu deren Verständnis abendländische Bildung gehörte. Es war nach dem Diner; sie trafen in der nicht mehr zufallenden Glastür zusammen. Settembrini sagte, den jungen Mann überholend und von vornherein im Begriff, sich gleich wieder von ihm zu lösen:
    »Nun, Ingenieur, wie hat der Granatapfel gemundet?«
    Hans Castorp lächelte erfreut und verwirrt.
    »Das heißt … Wie meinen Sie, Herr Settembrini? Granatapfel? Es gab doch keine? Ich habe nie im Leben … Doch, einmal habe ich Granatapfelsaft mit Selters getrunken. Es schmeckte zu süßlich.«
    Der Italiener, schon vorüber, wandte den Kopf zurück und artikulierte:
    »Götter und Sterbliche haben zuweilen das Schattenreich besucht und den Rückweg gefunden. Aber die Unterirdischen wissen, daß, wer von den Früchten ihres Reiches kostet, ihnen verfallen bleibt.«
    Und er ging weiter, in seinen ewig hell gewürfelten Hosen, und ließ im Rücken Hans Castorp, der »durchbohrt« sein sollte {537} von so viel Bedeutung und es gewissermaßen auch war, obgleich er, ärgerlich erheitert über die Zumutung, es zu sein, vor sich hin murmelte:
    »Latini, Carducci, Ratzi-Mausi-Falli, laß mich in Frieden!«
    Gleichwohl war er sehr glücklich bewegt über diese erste Anrede; denn trotz der Trophäe, dem makabren Angebinde, das er auf dem Herzen trug, hing er an Herrn Settembrini, legte großes Gewicht auf sein Dasein, und der Gedanke, gänzlich und auf immer von ihm verworfen und aufgegeben zu sein, wäre denn doch beschwerender und schrecklicher für seine Seele gewesen, als das Gefühl des Knaben, der in der Schule nicht mehr in Betracht gekommen war und die Vorteile der Schande genossen hatte, wie Herr Albin … Doch wagte er nicht, von seiner Seite das Wort an den Mentor zu richten, und dieser ließ abermals Wochen vergehen, bis er sich dem Sorgenzögling wieder einmal näherte.
    Das geschah, als auf den in ewig eintönigem Rhythmus anrollenden Meereswogen der Zeit Ostern herangetrieben war und auf »Berghof« begangen wurde, wie man alle Etappen und Einschnitte dort aufmerksam beging, um ein ungegliedertes Einerlei zu vermeiden. Beim ersten Frühstück fand jeder Gast neben seinem Gedecke ein Veilchensträußchen, beim zweiten Frühstück erhielt jedermann ein gefärbtes Ei, und die festliche Mittagstafel war mit Häschen geschmückt aus Zucker und Schokolade.
    »Haben Sie je eine Schiffsreise gemacht, Tenente, oder Sie, Ingenieur?« fragte Herr Settembrini, als er nach Tische in der Halle mit seinem Zahnstocher an das Tischchen der Vettern herantrat … Wie die

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