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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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gewissermaßen Abschied von mir, doch, es war etwas dem ähnliches. Nun, heute bin
ich
an der Reihe. Wie Sie mich hier sehen, meine Herren, bin ich im Begriff, Ihnen Lebewohl zu sagen. Ich verlasse dies Haus.«
    Beide verwunderten sich aufs höchste.
    »Nicht möglich! Das ist nur Scherz!« rief Hans Castorp, wie er bei anderer Gelegenheit auch gerufen hatte. Er war fast ebenso erschrocken wie damals. Aber auch Settembrini erwiderte:
    »Durchaus nicht. Es ist, wie ich Ihnen sage. Und übrigens trifft Sie diese Nachricht nicht unvorbereitet. Ich habe Ihnen erklärt, daß in dem Augenblick, wo sich meine Hoffnung, in irgendwie absehbarer Zeit in die Welt der Arbeit zurückkehren zu können, als unhaltbar erweisen werde, ich hier meine Zelte abzubrechen und irgendwo im Orte mich für die Dauer einzurichten entschlossen sei. Was wollen Sie nun, – dieser Augenblick ist eingetreten. Ich kann nicht genesen, es ist ausgemacht. Ich kann mein Leben fristen, aber nur hier. Das Urteil, das endgültige Urteil, lautet auf lebenslänglich, – mit der ihm eigenen Aufgeräumtheit hat Hofrat Behrens es mir verkündet. Gut denn, ich ziehe die Folgerungen. Ein Logis ist gemietet, ich bin im Begriffe, meine geringe irdische Habe, mein literarisches Handwerkszeug dorthin zu schaffen … Es ist nicht einmal weit von hier, in ›Dorf‹, wir werden einander begegnen, gewiß, ich werde Sie nicht aus den Augen verlieren, als Hausgenosse aber habe ich die Ehre, mich von Ihnen zu verabschieden.«
    So Settembrinis Eröffnung am Ostersonntag. Die Vettern {541} hatten sich außerordentlich bewegt darüber gezeigt. Des längeren noch, und wiederholt, hatten sie mit dem Literaten über seinen Entschluß gesprochen: darüber, wie er auch privatim den Kurdienst weiter werde ausüben können, über die Mitnahme und Fortführung ferner der weitläufigen enzyklopädischen Arbeit, die er auf sich genommen, jener Übersicht aller schöngeistigen Meisterwerke, unter dem Gesichtspunkt der Leidenskonflikte und ihrer Ausmerzung; endlich auch über sein zukünftiges Quartier im Hause eines »Gewürzkrämers«, wie Herr Settembrini sich ausdrückte. Der Gewürzkrämer, berichtete er, habe den oberen Teil seines Eigentums an einen böhmischen Damenschneider vermietet, der seinerseits Aftermieter aufnehme … Diese Gespräche also lagen zurück. Die Zeit schritt fort, und mehr als eine Veränderung hatte sie bereits gezeitigt. Settembrini wohnte wirklich nicht mehr im internationalen Sanatorium »Berghof«, sondern bei Lukaček, dem Damenschneider, – schon seit einigen Wochen. Nicht in Form einer Schlittenabreise hatte sein Auszug sich abgespielt, sondern zu Fuß, in kurzem, gelbem Paletot, der am Kragen und an den Ärmeln ein wenig mit Pelz besetzt war, und begleitet von einem Mann, der auf einem Schubkarren das literarische und das irdische Handgepäck des Schriftstellers beförderte, hatte man ihn stockschwingend davongehen sehen, nachdem er noch unterm Portal eine Saaltochter mit den Rücken zweier Finger in die Wange gezwickt … Der April, wie wir sagten, lag schon zu einem guten Teil, zu drei Vierteln, im Schatten der Vergangenheit, noch war es tiefer Winter, gewiß, im Zimmer hatte man knappe sechs Wärmegrade am Morgen, draußen war neungradige Kälte, die Tinte im Glase, wenn man es in der Loggia ließ, gefror über Nacht noch immer zu einem Eisklumpen, einem Stück Steinkohle. Aber der Frühling nahte, das wußte man; am Tage, wenn die Sonne schien, spürte man hie und da bereits eine ganz leise, ganz zarte Ahnung von ihm in {542} der Luft; die Periode der Schneeschmelze stand in naher Aussicht, und damit hingen die Veränderungen zusammen, die sich auf »Berghof« unaufhaltsam vollzogen, – nicht aufzuhalten selbst durch die Autorität, das lebendige Wort des Hofrats, der in Zimmer und Saal, bei jeder Untersuchung, jeder Visite, jeder Mahlzeit das populäre Vorurteil gegen die Schneeschmelze bekämpfte.
    Ob es Wintersportsleute seien, fragte er, mit denen er es zu tun habe, oder Kranke, Patienten? Wozu in aller Welt sie denn Schnee, gefrorenen Schnee brauchten? Eine ungünstige Zeit, – die Schneeschmelze? Die allergünstigste sei es! Nachweislich gäbe es im ganzen Tal um diese Zeit verhältnismäßig weniger Bettlägrige, als irgendwann sonst im Jahre! Überall in der weiten Welt seien die Wetterbedingungen für Lungenkranke zu dieser Frist schlechter als gerade hier! Wer einen Funken Verstand habe, der harre aus und nutze die

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