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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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unsichtbar-abwesend, so war sie doch zugleich auch unsichtbar-anwesend für Hans Castorps Sinn, – der Genius des Ortes, den er in schlimmer, in ausschreitungsvoll süßer Stunde, in einer Stunde, auf die kein friedliches kleines Lied des Flachlandes paßte, erkannt und besessen hatte, und dessen inneres Schattenbild er auf seinem seit neun Monaten so heftig in Anspruch genommenen Herzen trug.
    In jener Stunde hatte sein zuckender Mund in fremder Sprache und in der angeborenen so manches Ausschreitungsvolle halb unbewußt und halb erstickt gestammelt: Vorschläge, Anerbietungen, tolle Entwürfe und Willensvorsätze, denen alle Billigung mit Fug und Recht versagt geblieben war, – so, daß er den Genius über den Kaukasus begleiten, ihm nachreisen, ihn an dem Orte, den die freizügige Laune des Genius sich zum nächsten Domizil erwählen werde, erwarten wolle, um sich {529} niemals mehr von ihm zu trennen, und andere Unverantwortlichkeiten mehr. Was der schlichte junge Mann mitgenommen hatte aus dieser Stunde tiefen Abenteuers, war eben nur das Schattenpfand gewesen und die dem Range des Wahrscheinlichen sich nähernde Möglichkeit, daß Frau Chauchat zu einem vierten Aufenthalt hierher zurückkehren werde, früher oder später, wie die Krankheit, die ihr Freiheit gab, es fügen würde. Aber ob früher oder später, – Hans Castorp, so hatte es auch beim Abschied wieder geheißen, werde dann unbedingt »längst weit fort« sein; und der geringschätzige Sinn dieser Prophezeiung wäre noch schwerer erträglich gewesen, wenn man nicht hätte bedenken können, daß gewisse Dinge nicht prophezeit werden, damit sie eintreten, sondern damit sie
nicht
eintreten, gleichsam im Sinn der Beschwörung. Propheten dieser Art verhöhnen die Zukunft, indem sie ihr sagen, wie sie sich gestalten werde, damit sie sich schäme, sich wirklich so zu gestalten. Und wenn der Genius ihn, Hans Castorp, im Laufe des mitgeteilten Gesprächs und außerhalb seiner einen »joli bourgeois au petit endroit humide« genannt hatte, was etwas wie die Übersetzung der Redensart Settembrinis vom »Sorgenkind des Lebens« gewesen war, so fragte es sich eben, welcher Bestandteil dieser Wesensmischung sich als stärker erweisen würde: der bourgeois oder das andere … Auch hatte der Genius nicht in Betracht gezogen, daß er selbst ja verschiedentlich abgereist und wiedergekommen war, und daß auch Hans Castorp im rechten Augenblick würde wiederkommen können, – obgleich er ja freilich überhaupt nur deshalb noch immer hier oben saß, damit er
nicht
wiederzukommen brauchte: das war ausdrücklich, wie bei so vielen, der Sinn seines Verweilens.
    Eine
spöttische Prophezeiung vom Faschingsabend war eingetroffen: Hans Castorp hatte eine schlechte Fieberlinie gehabt, in steiler Zacke, die er mit einem Gefühl von Festlichkeit eingezeichnet, war seine Kurve damals emporgestiegen und, {530} nach einigem Absinken, als Hochplateau fortgelaufen, das sich, nur leicht gewellt, dauernd über der Ebene des bisher Gewohnten hielt. Es war eine Übertemperatur, deren Höhe und Hartnäckigkeit nach des Hofrats Aussage zu dem lokalen Befund in keinem rechten Verhältnis stand. »Sind eben doch vergifteter, als man Ihnen zutrauen sollte, Freundchen«, sagte er. »Na, greifen wir mal zu den Injektionen! Das wird Ihnen anschlagen. In drei, vier Monaten sind Sie wie der Fisch im Wasser, wenn es nach dem Unterfertigten geht.« So kam es, daß Hans Castorp nun zweimal die Woche, am Mittwoch und Sonnabend gleich nach der Morgenmotion, sich im »Labor« drunten einzufinden hatte, um seine Einspritzung entgegenzunehmen.
    Beide Ärzte verabfolgten dies Heilmittel, bald dieser, bald jener, aber der Hofrat tat es als Virtuos, mit einem Schwung, indem er beim Einstich zugleich abdrückte. Übrigens kümmerte er sich nicht um die Stelle, wohin er stach, so daß der Schmerz zuweilen des Teufels war und der Punkt noch lange brennend verhärtet blieb. Ferner wirkte die Injektion stark angreifend auf den Gesamtorganismus, erschütterte das Nervensystem wie eine Gewaltleistung sportlicher Art, und das zeugte für die ihr innewohnende Kraft, die sich auch darin bekundete, daß sie unmittelbar, für den Augenblick, die Temperatur sogar erhöhte: so hatte der Hofrat es vorausgesagt, und so geschah es denn auch, gesetzmäßig und ohne daß es an der vorausgesagten Erscheinung etwas zu beanstanden gab. Die Prozedur war rasch abgetan, war man nur erst einmal an der Reihe; im Handumdrehen

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