Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
geradeaus‹, sondern ›Karussell, Karussell‹.«
    »Hör’ auf!«
    »Sonnwendfeier!« sagte Hans Castorp, »Sommersonnenwende! Bergfeuer und Ringelreihn rund um die lodernde Flamme herum mit angefaßten Händen! Ich habe es nie gesehen, aber {561} ich höre, so wird es gemacht von urwüchsigen Menschen, so feiern sie die erste Sommernacht, mit der der Herbst beginnt, die Mittagsstunde und Scheitelhöhe des Jahres, von wo es abwärts geht, – sie tanzen und drehen sich und jauchzen. Worüber jauchzen sie in ihrer Urwüchsigkeit, – kannst du dir das begreiflich machen? Worüber sind sie so ausgelassen lustig? Weil es nun abwärts geht ins Dunkel, oder vielleicht, weil es bisher aufwärts ging und nun die Wende gekommen ist, der unhaltbare Wendepunkt, Mittsommernacht, die volle Höhe, mit Wehmut im Übermut? Ich sage es, wie es ist, mit den Worten, die mir dafür einfallen. Es ist melancholischer Übermut und übermütige Melancholie, weshalb die Urwüchsigen jauchzen und um die Flamme tanzen, sie tun es aus positiver Verzweiflung, wenn du so sagen willst, zu Ehren der Eulenspiegelei des Kreises und der Ewigkeit ohne Richtungsdauer, in der alles wiederkehrt.«
    »Ich will nicht so sagen,« murmelte Joachim, »bitte, schiebe es nicht auf mich. Es sind ja weitläufige Dinge, mit denen du dich beschäftigst des Abends, wenn du liegst.«
    »Ja, ich will nicht leugnen, daß du dich nützlicher beschäftigst mit deiner russischen Grammatik. Du mußt die Sprache nächstens ja fließend beherrschen, Mensch, natürlich ein großer Vorteil für dich, wenn es Krieg gibt, was Gott verhüte.«
    »Verhüte? Du sprichst wie ein Zivilist. Krieg ist notwendig. Ohne Kriege würde bald die Welt verfaulen, hat Moltke gesagt.«
    »Ja, dazu hat sie wohl eine Neigung. Und so viel kann ich dir zugeben«, setzte Hans Castorp an und wollte eben auf die Chaldäer zurückkommen, die ebenfalls Krieg geführt und Babylonien erobert hätten, obgleich sie Semiten und also beinahe Juden gewesen seien, – als beide gleichzeitig gewahr wurden, daß zwei Herren, die dicht vor ihnen gingen, die Köpfe nach ihnen wandten, aufmerksam gemacht durch ihre Reden, gestört in eigener Unterhaltung.
    {562} Es war auf der Hauptstraße, zwischen dem Kurhaus und dem Hotel Belvedere, auf dem Rückweg nach Davos-Dorf. Das Tal lag im Festkleide, in zarten, lichten und frohen Farben. Die Luft war köstlich. Eine Sinfonie von heiteren Wiesenblumendüften erfüllte die reine, trockene, klar durchsonnte Atmosphäre.
    Sie erkannten Lodovico Settembrini zur Seite eines Fremden; doch schien es, als erkenne er seinerseits sie nicht oder als wünsche er kein Zusammentreffen, denn er wandte rasch den Kopf wieder ab und vertiefte sich gestikulierend in die Unterhaltung mit seinem Begleiter, wobei er sogar rascher vorwärts zu kommen suchte. Als freilich die Vettern, rechts neben ihm, durch heitere Verbeugung grüßten, stellte er sich wunder wie angenehm überrascht, mit »Sapristi!« und »Teufel noch einmal!«, wollte aber nun wieder zurückhalten, die beiden vorüber- und vorangehen lassen, was sie jedoch nicht verstanden, das heißt: nicht bemerkten, weil sie keine Vernunft darin sahen. Ehrlich erfreut vielmehr, ihm nach längerer Trennung wieder zu begegnen, hielten sie sich bei ihm und schüttelten ihm die Hand, indem sie nach seinem Ergehen fragten und in höflicher Erwartung dabei zu seinem Gefährten hinüberblickten. So zwangen sie ihn, zu tun, was er offenbar lieber nicht getan hätte, was aber ihnen als die natürlichste und zu gewärtigendste Sache von der Welt erschien: nämlich sie mit jenem bekannt zu machen, – was denn also im Gehen und halben Stehenbleiben derart geschah, daß Settembrini, vor sich, mit verbindenden Handbewegungen und lustigen Reden die Herren miteinander in Beziehung setzte, sie vor seiner Brust sich die Hände reichen ließ.
    Es stellte sich heraus, daß der Fremde, der Settembrinis Jahre haben mochte, dessen Hausgenosse war: der andere Aftermieter Lukačeks, des Damenschneiders, Naphta mit Namen, soviel die jungen Leute verstanden. Er war ein kleiner, magerer Mann, rasiert und von so scharfer, man möchte sagen: ätzender Häß {563} lichkeit, daß die Vettern sich geradezu wunderten. Alles war scharf an ihm: die gebogene Nase, die sein Gesicht beherrschte, der schmal zusammengenommene Mund, die dickgeschliffenen Gläser der im übrigen leicht gebauten Brille, die er vor seinen hellgrauen Augen trug, und selbst das Schweigen, das

Weitere Kostenlose Bücher