Der Zauberberg
So miekrig von Figur sind auch immer nur die Semiten. Hast du denn ernstlich vor, den Mann zu besuchen?«
»Selbstverständlich werden wir ihn besuchen!« erklärte Hans Castorp. »Die Miekrigkeit, – das ist nur das Militär, das da aus dir spricht. Aber die Chaldäer hatten auch solche Nasen und waren doch höllisch auf dem Posten, nicht bloß in den Geheimwissenschaften. Naphta hat auch was von Geheimwissenschaft, er interessiert mich nicht wenig. Ich will auch nicht behaupten, daß ich heute schon klug aus ihm geworden bin, aber wenn wir öfter mit ihm zusammenkommen, so werden wir es vielleicht, und ich halte es gar nicht für ausgeschlossen, daß wir überhaupt klüger werden bei dieser Gelegenheit.«
»Ach, Mensch, du wirst ja immer klüger hier oben, mit deiner Biologie und Botanik und deinen unhaltbaren Wendepunkten. Und mit der ›Zeit‹ hattest du es gleich am ersten Tage zu tun. Und dabei sind wir doch hier, um gesünder, und nicht um gescheuter zu werden, – gesünder und ganz gesund, damit sie uns endlich in Freiheit setzen und als geheilt ins Flachland entlassen können!«
»Auf den Bergen wohnt die Freiheit!« sang Hans Castorp leichtsinnig. »Sage mir erst mal, was Freiheit ist«, fuhr er sprechend fort. »Naphta und Settembrini stritten vorhin ja auch darüber und kamen zu keiner Einigung. ›Freiheit ist das Gesetz der Menschenliebe!‹ sagt Settembrini, und das klingt nach seinem Vorfahren, dem Carbonaro. Aber so tapfer der Carbonaro war, und so tapfer unser Settembrini selber ist, …«
{583} »Ja, er wurde ungemütlich, als auf persönlichen Mut die Rede kam.«
»… so glaube ich doch, daß er vor manchem Angst hat, wovor der kleine Naphta
nicht
Angst hat, verstehst du, und daß seine Freiheit und Tapferkeit ziemlich ete-pe-tete sind. Meinst du, daß er Mut genug hätte, de se perdre ou même de se laisser dépérir?«
»Was fängst du an, französisch zu sprechen?«
»Nur so … Die Atmosphäre hier ist ja so international. Ich weiß nicht, wer mehr Gefallen daran finden müßte: Settembrini, von wegen der bürgerlichen Weltrepublik, oder Naphta mit seinem hierarchischen Kosmopolis. Ich habe scharf aufgepaßt, wie du siehst, aber klar ist die Sache mir nicht geworden, ich fand im Gegenteil, die Konfusion war groß, die herauskam bei ihren Reden.«
»Das ist immer so. Das wirst du immer so finden, daß bloß Konfusion herauskommt beim Reden und Meinungen haben. Ich sage dir ja, es kommt überhaupt nicht drauf an, was für Meinungen einer hat, sondern darauf, ob einer ein rechter Kerl ist. Am besten ist, man hat gleich gar keine Meinung, sondern tut seinen Dienst.«
»Ja, so kannst du sagen, als Landsknecht und rein formale Existenz, die du bist. Bei mir ist es was andres, ich bin Zivilist, ich bin gewissermaßen verantwortlich. Und mich regt es auf, solche Konfusion zu sehen, wie daß der eine die internationale Weltrepublik predigt und den Krieg grundsätzlich verabscheut, dabei aber so patriotisch ist, daß er partout die Brennergrenze verlangt und dafür einen Zivilisationskrieg führen will, – und daß der andere den Staat für Teufelswerk hält und von der allgemeinen Vereinigung am Horizonte flötet, aber im nächsten Augenblick das Recht des natürlichen Instinktes verteidigt und sich über Friedenskonferenzen lustig macht. Unbedingt müssen wir hingehen, um klug daraus zu werden. Du {584} sagst zwar, wir sollen hier nicht klüger werden, sondern gesünder. Aber das muß sich vereinigen lassen, Mann, und wenn du das nicht glaubst, dann treibst du Weltentzweiung, und so was zu treiben, ist immer ein großer Fehler, will ich dir mal bemerken.«
Vom Gottesstaat und von übler Erlösung
Hans Castorp bestimmte in seiner Loge ein Pflanzengewächs, das jetzt, da der astronomische Sommer begonnen hatte und die Tage kürzer zu werden begannen, an vielen Stellen wucherte: die Akelei oder Aquilegia, eine Ranunkulazeenart, die staudenartig wuchs, hochgestielt, mit blauen und veilchenfarbnen, auch rotbraunen Blüten und krautartigen Blättern von geräumiger Fläche. Die Pflanze wuchs da und dort, massenweis aber namentlich in dem stillen Grunde, wo er sie vor nun bald einem Jahre zuerst gesehen: der abgeschiedenen, wildwasserdurchrauschten Waldschlucht mit Steg und Ruhebank, wo sein voreilig-freizügiger und unbekömmlicher Spaziergang von damals geendigt hatte, und die er nun manchmal wieder besuchte.
Es war, wenn man es weniger unternehmend anfing, als er damals getan, nicht
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