Der Zauberberg
zynisch, was Sie da sagen. In den hochherzigen Anstrengungen der Demokratie, sich international {575} durchzusetzen, wollen Sie nichts erblicken als politische List …«
»Sie verlangen wohl, daß ich Idealismus oder gar Religiosität darin erblicke? Es handelt sich um letzte, schwächliche Regungen des Restes von Selbsterhaltungsinstinkt, über den ein verurteiltes Weltsystem noch verfügt. Die Katastrophe soll und muß kommen, sie kommt auf allen Wegen und auf alle Weise. Nehmen Sie die britische Staatskunst. Englands Bedürfnis, das indische Glacis zu sichern, ist legitim. Aber die Folgen? Eduard weiß so gut wie Sie und ich, daß die Machthaber von Petersburg die mandschurische Scharte auswetzen müssen und die Ableitung der Revolution so notwendig brauchen wie das liebe Brot. Trotzdem lenkt er – er muß es wohl! – den russischen Ausdehnungsdrang nach Europa, weckt eingeschlummerte Rivalitäten zwischen Petersburg und Wien –«
»Ach, Wien! Sie sorgen sich um dieses Welthindernis, vermutlich, weil Sie in dem morschen Imperium, dessen Haupt es ist, die Mumie des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation erkennen!«
»Und Sie finde ich russophil, vermutlich aus humanistischer Sympathie mit dem Cäsaro-Papismus.«
»Mein Herr, die Demokratie hat selbst vom Kreml mehr zu hoffen, als von der Hofburg, und es ist eine Schande für das Land Luthers und Gutenbergs –«
»Es ist außerdem wahrscheinlich eine Dummheit. Aber auch diese Dummheit ist ein Werkzeug der Fatalität –«
»Ach, gehen Sie mir mit der Fatalität! Die menschliche Vernunft braucht sich nur stärker zu
wollen
als die Fatalität, und sie
ist
es!«
»Gewollt wird immer nur das Schicksal. Das kapitalistische Europa will das seine.«
»Man glaubt an das Kommen des Krieges, wenn man ihn nicht hinlänglich verabscheut!«
{576} »Ihr Abscheu ist logisch abrupt, solange Sie ihn nicht beim Staate selbst beginnen lassen.«
»Der nationale Staat ist das Prinzip des Diesseits, das Sie dem Teufel zuschreiben möchten. Machen Sie aber die Nationen frei und gleich, schützen Sie die kleinen und schwachen vor Unterdrückung, schaffen Sie Gerechtigkeit, schaffen Sie nationale Grenzen …«
»Die Brennergrenze, ich weiß. Die Liquidation Österreichs. Wenn ich nur wüßte, wie Sie sie ohne Krieg zu bewerkstelligen gedenken!«
»Und ich wüßte wahrhaftig gern, wann jemals ich den nationalen Krieg verdammt haben soll.«
»Ich höre doch wohl –«
»Nein, das muß ich Herrn Settembrini bestätigen«, mischte sich Hans Castorp in den Disput, dem er im Gehen gefolgt war, indem er den jeweils Sprechenden mit schrägem Kopfe aufmerksam von der Seite betrachtet hatte. »Mein Vetter und ich haben ja schon manchmal den Vorzug gehabt, uns mit ihm über diese und ähnliche Dinge zu unterhalten, das heißt, natürlich lief es darauf hinaus, daß wir ihm zuhörten, wie er seine Meinungen entwickelte und alles klarstellte. Und da kann ich denn bestätigen, und auch mein Vetter hier wird sich daran erinnern, daß Herr Settembrini mehr als einmal mit großer Begeisterung von dem Prinzip der Bewegung und der Rebellion und der Weltverbesserung sprach, das ja an sich kein so ganz friedliches Prinzip ist, sollte ich meinen, und daß diesem Prinzip noch große Anstrengungen bevorständen, ehe es überall gesiegt haben werde und die allgemeine glückliche Weltrepublik stattfinden könne. Das waren seine Worte, wenn sie auch natürlich viel plastischer und schriftstellerischer waren als meine, das versteht sich von selbst. Was ich aber ganz genau weiß und wörtlich behalten habe, weil ich als ausgepichter Zivilist direkt etwas darüber erschrak, das war, daß er sagte, {577} dieser Tag werde, wenn nicht auf Taubenfüßen, so auf Adlersschwingen kommen (über die Adlersschwingen erschrak ich, wie ich mich erinnere), und Wien müsse aufs Haupt geschlagen sein, wenn man das Glück in die Wege leiten wolle. Man kann also nicht sagen, daß Herr Settembrini den Krieg überhaupt verworfen hat. Habe ich recht, Herr Settembrini?«
»Ungefähr«, sagte der Italiener kurz, indem er abgewandten Kopfes seinen Stock schwenkte.
»Schlimm«, lächelte Naphta häßlich. »Da sind Sie von Ihrem eigenen Schüler kriegerischer Neigungen überführt. Assument pennas ut aquilae …«
»Voltaire selbst hat den Zivilisationskrieg bejaht und Friedrich dem Zweiten den Krieg gegen die Türken empfohlen.«
»Statt dessen verbündete er sich mit ihnen, he, he. Und dann die
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