Der Zauberberg
James Tienappel, mit Grüßen und Genesungswünschen vom Großonkel und manchmal auch von dem seefahrenden Peter.
{587} Die Verabfolgung der Injektionen, so meldete Hans Castorp nach Hause, hatte der Hofrat neuestens unterbrochen. Sie bekamen diesem jungen Patienten nicht, verursachten ihm Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme und Müdigkeit, hatten die »Temperatur« zunächst erhöht und dann nicht beseitigt. Sie glühte als trockene Hitze subjektiv fort in seiner rosenroten Miene, als Mahnung daran, daß die Akklimatisation für diesen Sprößling der Tiefebene und ihrer feuchtfröhlichen Meteorologie doch eben wohl hauptsächlich in der Gewöhnung daran bestand, daß er sich nicht gewöhnte, – was übrigens Radamanthys ja selber nicht tat, der immer blaue Backen hatte. »Manche gewöhnen sich nie«, hatte Joachim gleich gesagt, und dies schien Hans Castorps Fall. Denn auch das Genickzittern, das ihn hier oben bald nach der Ankunft zu belästigen begonnen, hatte sich nicht wieder verlieren wollen, sondern stellte sich im Gehen, im Gespräch, ja selbst hier oben am blau blühenden Orte seines Nachdenkens über den Komplex seiner Abenteuer unvermeidlich ein, so daß ihm die würdige Kinnstütze Hans Lorenz Castorps beinahe schon zur festen Gewohnheit geworden war, – nicht ohne ihn selbst, wenn er sie benützte, an die Vatermörder des Alten, die Interimsform der Ehrenkrause, an das blaßgoldene Rund der Taufschale, an den frommen Ur-Ur-Laut und ähnliche Verwandtschaften unter der Hand zu erinnern und ihn so zum Überdenken seines Lebenskomplexes neuerdings hinzuleiten.
Pribislav Hippe erschien ihm nicht mehr leibhaftig, wie vor elf Monaten. Seine Akklimatisation war vollendet, er hatte keine Visionen mehr, lag nicht mit stillgestelltem Leibe auf seiner Bank, während sein Ich in ferner Gegenwart weilte – nichts mehr von solchen Zufällen. Deutlichkeit und Lebendigkeit dieses Erinnerungsbildes, wenn es ihm denn vorschwebte, hielten sich in normalen, gesunden Grenzen; und im Zusammenhange damit zog dann Hans Castorp wohl aus seiner Brustta {588} sche das gläserne Angebinde, das er dort in einem gefütterten Briefumschlag und hierauf in der Brieftasche verwahrt hielt: ein Täfelchen, das, wenn man es in gleicher Ebene mit dem Erdboden hielt, schwarz-spiegelnd und undurchsichtig schien, aber, gegen das Himmelslicht aufgehoben, sich erhellte und humanistische Dinge vorwies: das transparente Bild des Menschenleibes, Rippenwerk, Herzfigur, Zwerchfellbogen und Lungengebläse, dazu das Schlüssel- und Oberarmgebein, umgeben dies alles von blaß-dunstiger Hülle, dem Fleische, von dem Hans Castorp in der Faschingswoche vernunftwidriger Weise gekostet hatte. Was Wunder, daß sein bewegliches Herz stockte und stürzte, wenn er das Angebinde betrachtete und dann fortfuhr, »alles« zu überschlagen und zu bedenken, gelehnt an die schlicht gezimmerte Lehne der Ruhebank, die Arme gekreuzt, den Kopf zur Schulter geneigt, im Geräusche des Gießwassers und angesichts der blaublühenden Akelei?
Das Hochgebild organischen Lebens, die Menschengestalt schwebte ihm vor, wie in jener Frost- und Sternennacht anläßlich gelehrter Studien, und an ihre innere Anschauung knüpften sich für den jungen Hans Castorp so manche Fragen und Unterscheidungen, mit denen sich abzugeben der gute Joachim nicht verpflichtet sein mochte, für die aber er als Zivilist sich verantwortlich zu fühlen begonnen hatte, obwohl auch er im Flachlande drunten ihrer niemals ansichtig geworden war und vermutlich nie ansichtig würde geworden sein, wohl aber hier, wo man aus der beschaulichen Abgeschiedenheit von fünftausend Fuß auf Welt und Kreatur hinabblickte und sich seine Gedanken machte, – vermöge einer durch lösliche Gifte erzeugten Steigerung des Körpers auch wohl, die als trockene Hitze im Antlitz brannte. Er dachte an Settembrini im Zusammenhang mit jener Anschauung, an den pädagogischen Drehorgelmann, dessen Vater in Hellas zur Welt gekommen, und der die Liebe zum Hochgebild als Politik, Rebellion und Elo {589} quenz erläuterte, indem er die Pike des Bürgers am Altar der Menschheit weihte; dachte auch an den Kameraden Krokowski und an das, was er seit einiger Zeit im verdunkelten Zimmergelaß mit ihm trieb, besann sich über das doppelte Wesen der Analyse und wie weit sie der Tat und dem Fortschritte förderlich sei, wie weit dem Grabe verwandt und seiner anrüchigen Anatomie. Er rief die Bilder der beiden Großväter
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