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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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gar so weit dorthin. Stieg man vom Ziel der Schlittlrennen in »Dorf« ein wenig die Lehne hinan, so war der malerische Ort auf dem Waldwege, dessen Holzbrücken die von der Schatzalp kommende Bobbahn überkreuzten, ohne Umwege, Operngesang und Erschöpfungspausen in zwanzig Minuten zu erreichen, und wenn Joachim durch dienstliche Pflichten, durch Untersuchung, Innenphotographie, Blutprobe, Injektion oder Gewichtsfeststellung ans Haus gefesselt war, so wanderte Hans Castorp wohl bei heiterer Witterung nach dem zweiten Frühstück, zuweilen auch schon nach dem ersten dorthin, und auch die Stunden zwischen Tee und Abend {585} essen benutzte er wohl zu einem Besuch seines Lieblingsortes, um auf der Bank zu sitzen, wo ihn einst das mächtige Nasenbluten überkommen, dem Geräusche des Gießbachs mit schrägem Kopfe zu lauschen und das geschlossene Landschaftsbild um sich her zu betrachten, sowie die Menge von blauer Akelei, die nun wieder in ihrem Grunde blühte.
    Kam er nur dazu? Nein, er saß dort, um allein zu sein, um sich zu erinnern, die Eindrücke und Abenteuer so vieler Monate zu überschlagen und alles zu bedenken. Es waren ihrer viele und mannigfaltige, – nicht leicht zu ordnen dabei, denn sie erschienen ihm vielfach verschränkt und ineinanderfließend, so daß das Handgreifliche kaum vom bloß Gedachten, Geträumten und Vorgestellten zu sondern war. Nur abenteuerlichen Wesens waren sie alle, in dem Grade, daß sein Herz, beweglich, wie es hier oben vom ersten Tage an gewesen und geblieben war, stockte und hämmerte, wenn er ihrer gedachte. Oder genügte bereits die Vernunftüberlegung, daß die Aquilegia hier, wo ihm einst in einem Zustand herabgesetzter Lebenstätigkeit Pribislav Hippe leibhaftig erschienen war, nicht immer noch, sondern schon wieder blühte, und daß aus den »drei Wochen« demallernächst ein rundes Jahr geworden sein würde, um sein bewegliches Herz so abenteuerlich zu erschrecken?
    Übrigens bekam er kein Nasenbluten mehr auf seiner Bank am Wildwasser, das war vorbei. Seine Akklimatisation, die Joachim ihm sogleich als schwierig hingestellt und die ihre Schwierigkeit denn auch bewährt hatte, war vorgeschritten, sie mußte nach elf Monaten als vollendet gelten, und Weitergehendes in dieser Richtung war kaum zu gewärtigen. Der Chemismus seines Magens hatte sich geregelt und angepaßt, Maria Mancini schmeckte, die Nerven seiner ausgetrockneten Schleimhäute kosteten längst wieder empfänglich die Blume dieses preiswerten Fabrikats, das er sich nach wie vor, wenn der {586} Vorrat zur Neige ging, mit einer Art von Pietätsgefühl aus Bremen verschrieb, obgleich sehr einladende Ware sich in den Schaufenstern des internationalen Kurortes empfahl. Bildete Maria nicht eine Art von Verbindung zwischen ihm, dem Entrückten, und dem Flachlande, der alten Heimat? Unterhielt und bewahrte sie dergleichen Beziehungen nicht wirksamer als etwa die Postkarten, die er dann und wann nach unten an die Onkel richtete, und deren Abstände voneinander in demselben Maße größer geworden waren, als er sich unter Annahme hiesiger Begriffe eine großartigere Zeitbewirtschaftung zu eigen gemacht hatte? Es waren meistens Ansichtskarten, der größeren Gefälligkeit halber, mit hübschen Bildern des Tales im Schnee wie in sommerlicher Verfassung, und sie boten für Schriftliches nur eben soviel Raum, als nötig war, um die neueste ärztliche Verlautbarung zu überliefern, das Ergebnis einer Monats- oder Generaluntersuchung verwandtschaftlich zu melden, das heißt also: etwa mitzuteilen, daß akustisch wie optisch eine unverkennbare Besserung zu verzeichnen gewesen, daß er aber noch nicht entgiftet sei, und daß die leichte Übertemperatur, in der er immer noch stehe, von den kleinen Stellen komme, die eben noch vorhanden seien, aber bestimmt ohne Rest verschwinden würden, wenn er Geduld übe, so daß er dann keinesfalls wiederzukommen brauche. Er durfte sicher sein, daß darüber hinausgehende briefstellerische Leistungen von ihm nicht verlangt und erwartet wurden; es war keine humanistisch rednerische Sphäre, an die er sich wandte; die Antworten, die er erhielt, waren ebensowenig ergußhafter Art. Sie begleiteten meistens die geldlichen Subsistenzmittel, die ihm von zu Hause zukamen, die Zinsen seines väterlichen Erbes, die sich in hiesiger Münze so vorteilhaft ausnahmen, daß er sie niemals verzehrt hatte, wenn eine neue Lieferung eintraf, und bestanden in einigen Zeilen Maschinenschrift, gezeichnet

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