Der Zauberberg
Weltrepublik! Ich unterlasse es, mich zu erkundigen, was aus dem Prinzip der Bewegung und der Rebellion wird, wenn das Glück und die Vereinigung hergestellt sind. In diesem Augenblick würde die Rebellion zum Verbrechen …«
»Sie wissen sehr wohl, und auch diese jungen Herren wissen es, daß es sich um einen als unendlich gedachten Fortschritt der Menschheit handelt.«
»Alle Bewegung ist aber kreisförmig«, sagte Hans Castorp. »Im Raume und in der Zeit, das lehren die Gesetze von der Erhaltung der Masse und von der Periodizität. Mein Vetter und ich sprachen vorhin noch davon. Kann denn bei geschlossener Bewegung ohne Richtungsdauer von Fortschritt die Rede sein? Wenn ich abends so liege und den Zodiakus betrachte, das heißt: die Hälfte, die zu sehen ist, und an die alten weisen Völker denke …«
»Sie sollten nicht grübeln und träumen, Ingenieur,« unterbrach ihn Settembrini, »sondern sich entschlossen den Instinkten Ihrer Jahre und Ihrer Rasse anvertrauen, die Sie zur Tätigkeit drängen müssen. Auch Ihre naturwissenschaftliche Bil {578} dung muß Sie der Fortschrittsidee verbinden. Sie sehen in ungemessenen Zeiträumen das Leben vom Infusor zum Menschen sich fort- und emporentwickeln, Sie können nicht zweifeln, daß dem Menschen noch unendliche Vervollkommnungsmöglichkeiten offen stehen. Versteifen Sie sich denn aber auf die Mathematik, so führen Sie Ihren Kreislauf von Vollkommenheit zu Vollkommenheit und erquicken Sie sich an der Lehre unseres achtzehnten Jahrhunderts, daß der Mensch ursprünglich gut, glücklich und vollkommen war, daß nur die gesellschaftlichen Irrtümer ihn entstellt und verdorben haben, und daß er auf dem Wege kritischer Arbeit am Gesellschaftsbau wieder gut, glücklich und vollkommen werden soll, werden wird –«
»Herr Settembrini versäumt, hinzuzufügen,« fiel Naphta ein, »daß das Rousseausche Idyll eine vernünftlerische Verballhornung der kirchlichen Doktrin von der ehemaligen Staat- und Sündlosigkeit des Menschen ist, seiner ursprünglichen Gottesunmittelbarkeit und Gotteskindschaft, zu der er zurückkehren soll. Die Wiederherstellung des Gottesstaates nach Auflösung aller irdischen Formen liegt aber dort, wo Erde und Himmel, Sinnliches und Übersinnliches sich berühren, das Heil ist transzendent, und was Ihre kapitalistische Weltrepublik anbelangt, lieber Doktor, so ist es recht sonderbar, Sie in diesem Zusammenhang vom ›Instinkt‹ reden zu hören. Das Instinktive ist durchaus auf seiten des Nationalen, und Gott selbst hat den Menschen den natürlichen Instinkt eingepflanzt, der die Völker veranlaßt hat, sich in verschiedenen Staaten voneinander zu sondern. Der Krieg …«
»Der Krieg,« rief Settembrini, »selbst der Krieg, mein Herr, hat schon dem Fortschritt dienen müssen, wie Sie mir einräumen werden, wenn Sie sich gewisser Ereignisse aus Ihrer Lieblingsepoche, ich meine: wenn Sie sich der Kreuzzüge erinnern! Diese Zivilisationskriege haben die Beziehungen der Völker im {579} wirtschaftlichen und handelspolitischen Verkehr aufs glücklichste begünstigt und die abendländische Menschheit im Zeichen einer Idee vereinigt.«
»Sie sind sehr duldsam gegen die Idee. Desto höflicher will ich Sie dahin berichtigen, daß die Kreuzzüge nebst der Verkehrsbelebung, die sie zeitigten, nichts weniger als international ausgleichend gewirkt haben, sondern im Gegenteil die Völker lehrten, sich voneinander zu unterscheiden und die Ausbildung der nationalen Staatsidee kräftig förderten.«
»Sehr zutreffend, soweit das Verhältnis der Völker zur Klerisei in Frage kommt. Ja! damals begann das Gefühl staatlich nationaler Ehre sich gegen hierarchische Anmaßung zu festigen …«
»Und dabei ist, was Sie hierarchische Anmaßung nennen, nichts als die Idee menschlicher Vereinigung im Zeichen des Geistes!«
»Man kennt diesen Geist, und man bedankt sich.«
»Es ist klar, daß Ihre nationale Manie den weltüberwindenden Kosmopolitismus der Kirche verabscheut. Wenn ich nur wüßte, wie Sie den Abscheu vor dem Kriege damit zu vereinigen gedenken. Ihr antikisierender Staatskult muß Sie zum Verfechter positiver Rechtsauffassung machen, und als solcher …«
»Sind wir beim Recht? Im Völkerrecht, mein Herr, bleibt der Gedanke des Naturrechtes und allmenschlicher Vernunft lebendig …«
»Pah, Ihr Völkerrecht ist abermals nichts als eine Rousseausche Verballhornung des ius divinum, das weder mit Natur noch Vernunft etwas zu schaffen hat, sondern
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