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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Tür geführte Gespräch. Herr Naphta lasse bitten, näher zu treten, meldete er und öffnete den jungen Leuten eine Tür, zwei oder drei Schritte weiter rechts, wobei er auch noch eine zusammenfallende Portiere vor ihnen aufzuheben hatte. Die Eintretenden empfing Naphta, in Schleifenschuhen auf moosgrünem Teppich stehend.
    Beide Vettern waren überrascht durch den Luxus des zweifenstrigen Arbeitszimmers, das sie aufgenommen hatte, ja geblendet durch Überraschung; denn die Dürftigkeit des Häuschens, seiner Treppe, seines armseligen Korridors ließ dergleichen nicht entfernt erwarten und verlieh der Eleganz von Naphtas Einrichtung durch Kontrastwirkung etwas Märchenhaftes, was sie an und für sich kaum besaß und auch in den Augen Hans Castorps und Joachim Ziemßens nicht besessen hätte. Immerhin, sie war fein, ja glänzend, und zwar so, daß sie {592} trotz Schreibtisch und Bücherschränken den Charakter des Herrenzimmers eigentlich nicht wahrte. Es war zuviel Seide darin, weinrote, purpurrote Seide: die Vorhänge, die die schlechten Türen verbargen, waren daraus, die Fenster-Überfälle und ebenso die Bezüge der Meubles-Gruppe, die an einer Schmalseite, der zweiten Tür gegenüber, vor einem die Wand fast ganz bespannenden Gobelin angeordnet war. Es waren Barockarmstühle mit kleinen Polstern auf den Seitenlehnen, um einen runden, metallbeschlagenen Tisch gruppiert, hinter dem ein mit Seidenplüschkissen ausgestattetes Sofa desselben Stiles stand. Die Bücherspinde nahmen die Wandpartien neben den beiden Türen ein. Sie waren, wie der Schreibtisch, oder vielmehr der mit einem gewölbten Rolldeckel versehene Sekretär, der zwischen den Fenstern Platz gefunden hatte, in Mahagoni gearbeitet, mit Glastüren, hinter die grüne Seide gespannt war. Aber in dem Winkel links von der Sofagruppe war ein Kunstwerk zu sehen, eine große, auf rot verkleidetem Sockel erhöhte bemalte Holzplastik, – etwas innig Schreckhaftes, eine Pietà, einfältig und wirkungsvoll bis zum Grotesken: die Gottesmutter in der Haube, mit zusammengezogenen Brauen und jammernd schief geöffnetem Munde, den Schmerzensmann auf ihrem Schoß, eine im Größenverhältnis primitiv verfehlte Figur mit kraß herausgearbeiteter Anatomie, die jedoch von Unwissenheit zeugte, das hängende Haupt von Dornen starrend, Gesicht und Glieder mit Blut befleckt und berieselt, dicke Trauben geronnenen Blutes an der Seitenwunde und den Nägelmalen der Hände und Füße. Dies Schaustück verlieh dem seidenen Zimmer nun freilich einen besonderen Akzent. Auch die Tapete, über den Bücherschränken und an der Fensterwand sichtbar, war übrigens offenbar eine Leistung des Mieters: das Grün ihrer Längsstreifen war das des weichen Teppichs, der über die rote Bodenbespannung gebreitet war. Nur der niedrigen Decke war wenig zu helfen gewesen. Sie war {593} kahl und rissig. Doch hing ein kleiner venezianischer Lüster daran herab. Die Fenster waren mit cremefarbenen Stores verhüllt, die bis zum Boden reichten.
    »Da haben wir uns zu einem Kolloquium eingefunden!« sagte Hans Castorp, während seine Augen mehr an dem frommen Schrecknis im Winkel, als an dem Bewohner des überraschenden Zimmers hafteten, der es anerkannte, daß die Vettern Wort gehalten hätten. Er wollte sie mit gastlichen Bewegungen seiner kleinen Rechten zu den seidenen Sitzen leiten, aber Hans Castorp ging geradeswegs und gebannt auf die Holzgruppe zu und blieb, Arme in die Hüften gestemmt, mit seitwärts geneigtem Kopf davor stehen.
    »Was haben Sie denn da!« sagte er leise. »Das ist ja schrecklich gut. Hat man je so ein Leiden gesehn. Etwas Altes, natürlich?«
    »Vierzehntes Jahrhundert«, antwortete Naphta. »Wahrscheinlich rheinischer Herkunft. Es macht Ihnen Eindruck?«
    »Enormen«, sagte Hans Castorp. »Das kann seinen Eindruck auf den Beschauer denn doch wohl gar nicht verfehlen. Ich hätte nicht gedacht, daß etwas zugleich so häßlich – entschuldigen Sie – und so schön sein könnte.«
    »Erzeugnisse einer Welt der Seele und des Ausdrucks,« versetzte Naphta, »sind immer häßlich vor Schönheit und schön vor Häßlichkeit, das ist die Regel. Es handelt sich um geistige Schönheit, nicht um die des Fleisches, die absolut dumm ist. Übrigens auch abstrakt ist sie«, fügte er hinzu. »Die Schönheit des Leibes ist abstrakt. Wirklichkeit hat nur die innere, die des religiösen Ausdrucks.«
    »Das haben Sie dankenswert richtig unterschieden und angeordnet«, sagte Hans Castorp.

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