Der Zauberberg
»Vierzehntes?« versicherte er sich … »Dreizehnhundertsoundso? Ja, das ist das Mittelalter, wie es im Buche steht, ich erkenne gewissermaßen die Vorstellung darin wieder, die ich mir in letzter Zeit vom Mittelalter gemacht habe. Ich wußte eigentlich nichts davon, ich bin ja ein {594} Mann des technischen Fortschritts, soweit ich überhaupt in Frage komme. Aber hier oben ist mir die Vorstellung des Mittelalters verschiedentlich nahe gebracht worden. Die ökonomistische Gesellschaftslehre gab es damals noch nicht, soviel ist klar. Wie hieß der Künstler denn wohl?«
Naphta zuckte die Achseln.
»Was liegt daran?« sagte er. »Wir sollten danach nicht fragen, da man auch damals, als es entstand, nicht danach fragte. Das hat keinen wunderwie individuellen Monsieur zum Autor, es ist anonym und gemeinsam. Es ist übrigens sehr vorgeschrittenes Mittelalter, Gotik, Signum mortificationis. Sie finden da nichts mehr von der Schonung und Beschönigung, mit der noch die romanische Epoche den Gekreuzigten darstellen zu müssen glaubte, keine Königskrone, keinen majestätischen Triumph über Welt und Martertod. Alles ist radikale Verkündigung des Leidens und der Fleischesschwäche. Erst der gotische Geschmack ist der eigentlich pessimistisch-asketische. Sie werden die Schrift Innozenz des Dritten, ›De miseria humanae conditionis‹, nicht kennen, – ein äußerst witziges Stück Literatur. Sie stammt vom Ende des zwölften Jahrhunderts, aber erst diese Kunst liefert die Illustrationen dazu.«
»Herr Naphta,« sagte Hans Castorp nach einem Aufseufzen, »mich interessiert jedes Wort von dem, was Sie da hervorheben. ›Signum mortificationis‹ sagten Sie? Das werde ich mir merken. Vorher sagten Sie etwas von ›anonym und gemeinsam‹, was auch der Mühe wert scheint, darüber nachzudenken. Sie vermuten leider richtig, daß ich die Schrift des Papstes – ich nehme an, daß Innozenz der Dritte ein Papst war – nicht kenne. Habe ich richtig verstanden, daß sie asketisch und witzig ist? Ich muß gestehen, ich habe mir nie vorgestellt, daß das so Hand in Hand gehen könnte, aber wenn ich es ins Auge fasse, so leuchtet es mir ein, natürlich, eine Abhandlung über das menschliche Elend bietet zum Witz schon Gelegenheit, auf Kosten des Flei {595} sches. Ist die Schrift denn erhältlich? Wenn ich mein Latein zusammennähme, vielleicht könnte ich sie lesen.«
»Ich besitze das Buch«, antwortete Naphta, mit dem Kopf nach einem der Schränke weisend. »Es steht Ihnen zur Verfügung. Aber wollen wir uns nicht setzen? Sie sehen die Pietà auch vom Sofa aus. Eben kommt unser kleines Vespermahl …«
Es war das Dienerchen, das Tee brachte, dazu einen hübschen, silberbeschlagenen Korb, worin in Stücke geschnittener Baumkuchen lag. Hinter ihm aber, durch die offene Tür, wer trat beschwingten Schrittes mit »Sapperlot!« »Accidenti!« und feinem Lächeln herein? Das war Herr Settembrini, wohnhaft eine Treppe höher, der sich einfand, in der Absicht, den Herren Gesellschaft zu leisten. Durch sein Fensterchen, sagte er, habe er die Vettern kommen sehen und rasch noch eine enzyklopädische Seite heruntergeschrieben, die er eben unter der Feder gehabt, um sich dann ebenfalls hier zu Gaste zu bitten. Nichts war natürlicher, als daß er kam. Seine alte Bekanntschaft mit den Berghofbewohnern berechtigte ihn dazu, und dann war auch sein Verkehr und Austausch mit Naphta, trotz tiefgehender Meinungsverschiedenheiten, ja offenbar überhaupt sehr lebhaft, – wie denn der Gastgeber ihn leichthin und ohne Überraschung als Zugehörigen begrüßte. Das hinderte nicht, daß Hans Castorp von seinem Kommen sehr deutlich einen doppelten Eindruck gewann. Erstens, so empfand er, stellte Herr Settembrini sich ein, um ihn und Joachim, oder eigentlich kurzweg ihn, nicht mit dem häßlichen kleinen Naphta allein zu lassen, sondern durch seine Anwesenheit ein pädagogisches Gegengewicht zu schaffen; und zweitens war klar ersichtlich, daß er gar nichts dagegen hatte, sondern die Gelegenheit recht gern benutzte, den Aufenthalt in seinem Dach auf eine Weile mit dem in Naphtas seidenfeinem Zimmer zu vertauschen und einen wohlservierten Tee einzunehmen: er rieb sich die gelblichen, an der Kleinfingerseite des Rückens mit schwarzen {596} Haaren bewachsenen Hände, bevor er zugriff, und speiste mit unverkennbarem, auch lobend ausgesprochenem Genuß von dem Baumkuchen, dessen schmale, gebogene Scheiben von Schokoladeadern durchzogen waren.
Das
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