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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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daß er den Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Faust stützte, ungefähr wie beim Schweinchen-Zeichnen, und Herrn Naphta aus nächster Nähe gespannt ins Gesicht blickte.
    Dieser saß still und scharf, die mageren Hände im Schoß. Er sagte:
    »Ich suchte Logik in unser Gespräch einzuführen, und Sie antworten mir mit Hochherzigkeiten. Daß die Renaissance all das zur Welt gebracht hat, was man Liberalismus, Individualismus, humanistische Bürgerlichkeit nennt, war mir leidlich bekannt; aber Ihre ›etymologischen Betonungen‹ lassen mich kühl, denn das ›ringende‹, das heroische Lebensalter Ihrer Ideale ist längst vorüber, diese Ideale sind tot, sie liegen heute zum mindesten in den letzten Zügen, und die Füße derer, die ihnen den Garaus machen werden, stehen schon vor der Tür. Sie nennen sich, wenn ich nicht irre, einen Revolutionär. Aber wenn Sie glauben, daß das Ergebnis künftiger Revolutionen – Freiheit sein wird, so sind Sie im Irrtum. Das Prinzip der Freiheit hat sich in fünfhundert Jahren erfüllt und überlebt. Eine Pädagogik, die sich heute noch als Tochter der Aufklärung versteht und in der Kritik, der Befreiung und Pflege des Ich, der Auflösung absolut bestimmter Lebensformen ihre Bildungsmittel erblickt, – eine solche Pädagogik mag noch rhetorische Augenblickserfolge davontragen, aber ihre Rückständigkeit ist für den Wissenden über jeden Zweifel erhaben. Alle wahrhaft erzieherischen Verbände haben von jeher gewußt, um was es sich in Wahrheit bei aller Pädagogik immer nur handeln kann: nämlich um den absoluten Befehl, die eiserne Bindung, um Disziplin, Opfer, Verleugnung des Ich, Vergewaltigung der Persönlichkeit. Zuletzt bedeutet es ein liebloses Mißverstehen der Jugend, zu glauben, sie finde ihre Lust in der Freiheit. Ihre tiefste Lust ist der Gehorsam.«
    {604} Joachim richtete sich gerade auf. Hans Castorp errötete. Herr Settembrini drehte erregt an seinem schönen Schnurrbart.
    »Nein!« fuhr Naphta fort. »Nicht Befreiung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und das Gebot der Zeit. Was sie braucht, wonach sie verlangt, was sie sich schaffen wird, das ist – der Terror.«
    Er hatte das letzte Wort leiser als alles Vorhergehende gesprochen, ohne eine Körperbewegung; nur seine Brillengläser hatten kurz aufgeblitzt. Alle drei, die ihn hörten, waren zusammengezuckt, auch Settembrini, der sich aber bald lächelnd wieder faßte.
    »Und darf man sich erkundigen,« fragte er, »wen oder was – Sie sehen, ich bin ganz Frage, ich weiß nicht einmal, wie ich fragen soll – wen oder was Sie sich als Träger dieses – ich wiederhole ungern das Wort – dieses Terrors denken?«
    Naphta saß stille, scharf und blitzend. Er sagte:
    »Ich stehe zu Diensten. Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich unsere Übereinstimmung voraussetze in der Annahme eines idealen Urzustandes der Menschheit, eines Zustandes der Staat- und Gewaltlosigkeit, der unmittelbaren Gotteskindschaft, worin es weder Herrschaft noch Dienst gab, nicht Gesetz noch Strafe, kein Unrecht, keine fleischliche Verbindung, keine Klassenunterschiede, keine Arbeit, kein Eigentum, sondern Gleichheit, Brüderlichkeit, sittliche Vollkommenheit.«
    »Sehr gut. Ich stimme zu«, erklärte Settembrini. »Ich stimme zu bis auf den Punkt der fleischlichen Verbindung, die offenbar jederzeit stattgehabt haben muß, da der Mensch ein höchstentwickeltes Wirbeltier ist und nicht anders, als andere Wesen –«
    »Wie Sie meinen. Ich konstatiere unser grundsätzliches Einverständnis, was den anfänglichen paradiesisch justizlosen und gottesunmittelbaren Zustand betrifft, der durch den Sündenfall verloren ging. Ich glaube, daß wir noch ein weiteres Stück Weges Seite an Seite bleiben können, nämlich indem wir den {605} Staat auf einen der Sünde Rechnung tragenden, zum Schutz gegen das Unrecht geschlossenen Gesellschaftsvertrag zurückführen und darin den Ursprung der herrschaftlichen Gewalt erblicken.«
    »Benissimo!« rief Settembrini. »Gesellschaftsvertrag … das ist die Aufklärung, das ist Rousseau. Ich hätte nicht gedacht –«
    »Ich bitte. Unsere Wege scheiden sich hier. Aus der Tatsache, daß alle Herrschaft und Gewalt ursprünglich beim Volke war, und daß dieses sein Recht an der Gesetzgebung und seine ganze Gewalt dem Staate, dem Fürsten übertrug, folgert Ihre Schule vor allem das revolutionäre Recht des Volkes vor dem Königtum. Wir dagegen –«
    »Wir?« dachte Hans Castorp

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