Der Zauberberg
neuen Astronomie, die aus dem Zentrum des Alls, dem erlauchten Schauplatz, wo Gott und Teufel um den Besitz des beiderseits heiß begehrten Geschöpfes kämpften, einen gleichgültigen kleinen Wandelstern machte und der großartigen kosmischen Stellung des Menschen, auf der übrigens die Astrologie beruhte, vorderhand ein Ende bereitete.«
»Vorderhand?« Herrn Settembrinis Miene hatte, wie er es lauernd fragte, selber etwas von der eines Ketzerrichters und Inquisitors, der darauf wartet, daß der Aussagende sich im unzweifelhaft Sträflichen verfange.
»Allerdings. Für ein paar hundert Jahre«, bestätigte Naphta kalt. »Eine Ehrenrettung der Scholastik steht, wenn nicht alles täuscht, auch in dieser Beziehung bevor, sie ist schon im vollen Gange. Kopernikus wird von Ptolemäus geschlagen werden. Die heliozentrische These begegnet nachgerade einem geistigen Widerstand, dessen Unternehmungen wahrscheinlich zum Ziele führen werden. Die Wissenschaft wird sich philosophisch genötigt sehen, die Erde in alle Würden wieder einzusetzen, die das kirchliche Dogma ihr wahren wollte.«
{599} »Wie? Wie? Geistiger Widerstand? Philosophisch genötigt sehen? Zum Ziele führen? Welche Art von Voluntarismus spricht aus Ihnen? Und die voraussetzungslose Forschung? Die reine Erkenntnis? Die Wahrheit, mein Herr, die mit der Freiheit so innig verbunden ist, und deren Blutzeugen, aus denen Sie Beleidiger der Erde machen wollen, diesem Stern vielmehr zur ewigen Zierde gereichen??«
Herr Settembrini hatte eine gewaltige Art, zu fragen. Hochaufgerichtet saß er und ließ seine ehrenhaften Worte auf den kleinen Herrn Naphta niedersausen, am Ende die Stimme so mächtig hochziehend, daß man wohl hörte, wie sicher er war, daß des Gegners Antwort hierauf nur in beschämtem Schweigen bestehen könne. Er hatte ein Stück Baumkuchen zwischen den Fingern gehalten, während er sprach, legte es aber nun auf den Teller zurück, da er nach dieser Fragestellung nicht hineinbeißen mochte.
Naphta erwiderte mit unangenehmer Ruhe:
»Guter Freund, es gibt keine reine Erkenntnis. Die Rechtmäßigkeit der kirchlichen Wissenschaftslehre, die sich in Augustins Satz ›Ich glaube, damit ich erkenne‹ zusammenfassen läßt, ist völlig unbestreitbar. Der Glaube ist das Organ der Erkenntnis und der Intellekt sekundär. Ihre voraussetzungslose Wissenschaft ist eine Mythe. Ein Glaube, eine Weltanschauung, eine Idee, kurz: ein Wille ist regelmäßig vorhanden, und Sache der Vernunft ist es, ihn zu erörtern, ihn zu beweisen. Es läuft immer und in allen Fällen auf das ›Quod erat demonstrandum‹ hinaus. Schon der Begriff des Beweises enthält, psychologisch genommen, ein stark voluntaristisches Element. Die großen Scholastiker des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts waren einig in der Überzeugung, daß in der Philosophie nicht wahr sein könne, was vor der Theologie falsch sei. Lassen wir die Theologie aus dem Spiel, wenn Sie wollen, aber eine Humanität, die nicht anerkennt, daß in der Naturwissen {600} schaft nicht wahr sein kann, was vor der Philosophie falsch ist, das ist keine Humanität. Die Argumentation des heiligen Offiziums gegen Galilei lautete dahin, daß seine Sätze philosophisch absurd seien. Eine schlagendere Argumentation gibt es nicht.«
»Eh, eh, die Argumente unseres armen, großen Galilei haben sich als stichhaltiger erwiesen! Nein, lassen Sie uns ernsthaft reden, Professore! Beantworten Sie mir vor diesen beiden aufmerksamen jungen Leuten die Frage: Glauben Sie an eine Wahrheit, an die objektive, die wissenschaftliche Wahrheit, der nachzustreben oberstes Gesetz aller Sittlichkeit ist, und deren Triumphe über die Autorität die Ruhmesgeschichte des Menschengeistes bilden?!«
Hans Castorp und Joachim wandten die Köpfe von Settembrini zu Naphta, der erstere schneller, als der andere. Naphta antwortete:
»Ein solcher Triumph ist nicht möglich, denn die Autorität ist der Mensch, sein Interesse, seine Würde, sein Heil, und zwischen ihr und der Wahrheit kann es keinen Widerstreit geben. Sie fallen zusammen.«
»Die Wahrheit wäre demnach –«
»Wahr ist, was dem Menschen frommt. In ihm ist die Natur zusammengefaßt, in aller Natur ist nur er geschaffen und alle Natur nur für ihn. Er ist das Maß der Dinge und sein Heil das Kriterium der Wahrheit. Eine theoretische Erkenntnis, die des praktischen Bezuges auf die Heilsidee des Menschen entbehrt, ist dermaßen uninteressant, daß jeder Wahrheitswert ihr abzusprechen und
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