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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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kosmischen, der astrologischen Wichtig {610} keit der Einzelseele ausgeht, ein nicht sozialer, sondern religiöser Individualismus, der das Menschliche nicht als Widerstreit von Ich und Gesellschaft, sondern als den von Ich und Gott, von Fleisch und Geist erlebt, – ein solcher, eigentlicher Individualismus verträgt sich mit bindungsvollster Gemeinschaft recht wohl …«
    »Anonym und gemeinsam ist er«, sagte Hans Castorp.
    Settembrini sah ihn mit großen Augen an.
    »Schweigen Sie, Ingenieur!« befahl er mit einer Strenge, die auf Rechnung seiner Nervosität und Anspannung zu setzen war. »Unterrichten Sie sich, aber produzieren Sie nicht! – Das ist eine Antwort«, sagte er, wieder zu Naphta gewandt. »Sie tröstet mich wenig, aber es ist eine. Blicken wir allen Konsequenzen ins Auge … Mit der Industrie verneint der christliche Kommunismus die Technik, die Maschine, den Fortschritt. Mit dem, was Sie Händlertum nennen, dem Gelde und Geldgeschäft, das der Antike weit höher als Landwirtschaft und Handwerk galt, verneint er die Freiheit. Denn es ist ja klar, es beißt in die Augen, daß dadurch, wie im Mittelalter, alle privaten und öffentlichen Verhältnisse an den Grund und Boden gebunden werden, auch die – es fällt mir nicht eben ganz leicht, es auszusprechen – auch die Persönlichkeit. Kann nur der Boden ernähren, so ist er es allein, der Freiheit verleiht. Handwerker und Bauern, als so ehrenwert sie immer gelten mögen, – besitzen sie keinen Boden, so sind sie Hörige dessen, der welchen besitzt. Tatsächlich bestand bis tief ins Mittelalter hinein die große Menge selbst der Städte aus Hörigen. Sie haben im Gange des Gesprächs dies und das von menschlicher Würde verlauten lassen. Unterdessen verfechten Sie eine Wirtschaftsmoral, an der die Unfreiheit und Würdelosigkeit der menschlichen Persönlichkeit hängt.«
    »Über Würde und Würdelosigkeit,« erwiderte Naphta, »ließe sich reden. Vorderhand wäre es mir eine Genugtuung, wenn diese Zusammenhänge Ihnen Veranlassung gäben, die Freiheit {611} nicht so sehr als schöne Geste, denn als ein Problem zu begreifen. Sie stellen fest, daß die christliche Wirtschaftsmoral in ihrer Schönheit und Menschlichkeit Unfreie schafft. Ich stelle dagegen, daß die Sache der Freiheit, die Sache der Städte, wie man konkreter sagen darf, – daß diese Sache, höchst sittlich, wie sie immer sei, historisch verbunden ist mit der unmenschlichsten Entartung der Wirtschaftsmoral, mit allen Greueln des modernen Händler- und Spekulantentums, mit der Satansherrschaft des Geldes, des Geschäftes.«
    »Ich muß darauf bestehen, daß Sie sich nicht hinter Zweifel und Antinomien zurückziehen, sondern sich klar und unzweideutig zur schwärzesten Reaktion bekennen!«
    »Der erste Schritt zu wahrer Freiheit und Humanität wäre, sich der schlotternden Furcht vor dem Begriff ›Reaktion‹ zu entschlagen.«
    »Nun, es ist genug«, erklärte Herr Settembrini mit leicht bebender Stimme, indem er Tasse und Teller von sich schob, die übrigens leer waren, und sich vom seidenen Sofa erhob. »Es ist genug für heute, genug für einen Tag, wie mir scheint. Professor, wir danken für die schmackhafte Bewirtung, für das sehr spirituelle Gespräch. Meine Freunde vom Berghof hier ruft die Kur, und ich habe den Wunsch, ihnen, bevor sie gehen, meine Klause droben zu zeigen. Kommen Sie, meine Herren! Addio, Padre!«
    Jetzt hatte er Naphta gar »Padre« genannt! Hans Castorp vermerkte es mit hohen Augenbrauen. Man ließ es geschehen, daß Settembrini den Aufbruch leitete, über die Vettern verfügte und nicht in Frage kommen ließ, ob Naphta vielleicht sich anzuschließen wünsche. Die jungen Leute verabschiedeten sich, ebenfalls dankend, und wurden wiederzukommen ermutigt. Sie gingen mit dem Italiener, nicht ohne daß Hans Castorp das Buch »De miseria humanae conditionis«, einen morschen Pappband, leihweise mit auf den Weg bekam. Noch {612} immer saß der sauerbärtige Lukaček auf seinem Tisch, das Ärmelkleid für die Alte fertigend, als sie an seiner offenen Tür vorüberschritten, um die fast leiterartige Stiege zum Dachgeschoß zu gewinnen. Das war übrigens, klar geschaut, gar kein Geschoß. Es war einfach der Dachstuhl, mit nacktem Gebälk unter der Innenseite der Schindeln und mit der sommerlichen Atmosphäre des Speichers, dem Geruch warmen Holzes. Aber der Dachstuhl enthielt zwei Kammern, und diese bewohnte der republikanische Kapitalist, sie dienten dem

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